5 - der Sonnenaufgang

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10.05. , Bolu
Sei wie der Sonnenaufgang. Unterbreche die Dunkelheit mit deinem Licht. Stehe auf, auch wie dunkel die Nacht war. Sei jeden Moment für den Kampf bereit, der sich Leben nennt. Du musst ein Kämpfer sein, um auf dieser Welt zu überleben. Ein Kämpfer bekommt Narben ab, aber bricht niemals ineinander zusammen. Ein Kämpfer steht standhaft, auch wie viele Pfeile er im Rücken hat. Der Bogen ist meist in den Händen der Menschen, die sich Freunde nennen. Oder Menschen, die du liebst. Den Bogen, den deine Feinde tragen, siehst du. Aber am härtesten wird dich der Pfeil im Herzen treffen. Wenn ein Kämpfer im Herzen getroffen wurde, bricht er ineinander. Um wieder aufzustehen, reißt er den Pfeil mit seinem Herz raus...

D. A.

Kurz überflog ich den Eintrag in meinem Notizheft. Meine Schrift war wie immer unordentlich. Der Sonnenaufgang schrieb ich die Überschrift auf die oberste Zeile und klappte das Heft zu.
Wieder begann ein neuer Tag. Meine müden Augen blickten die grelle Sonne an, die am Aufgehen war. Der Himmel hatte sich wie an jedem Morgen in verschiedenen Farben gefärbt. Kurz warf ich ein Blick auf die Uhr. Sie zeigte 5:18 Uhr an.
Ich streifte mir mein Pullover über und öffnete danach die Balkontüre. Frische Morgenluft strömte in mein Zimmer rein. Die kühle Luft tat mir gut.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt den Sonnenaufgang verpasst hatte. Meine Traumwelt war so schön, dass ich immer wieder früh am Morgen aufwachte.
Mittlerweile reichten mir fünf Stunden Schlaf. Mit Tabletten ging es.

Ich ging wieder rein und kramte die Zigarettenschachtel aus meiner Jackentasche raus. Mit einem Feuerzeug ging ich wieder raus. Ich zündete eine Zigarette an und zog das Gift in mir rein.
Wenn man Gift einatmet, gibt es jemanden in deiner Seele, der sterben muss.
Das hatte ich mal in mein Notizbuch reingeschrieben. Vielleicht musste mein altes Ich sterben. Oder all die Erinnerungen in meinem Kopf.
Früher dachte ich, der Schmerz vergeht und lindert sich mit jedem Atemzug Rauch. Heute weiß ich, dass es nur eine schlechte Angewohnheit ist. Ich blickte hoch und legte mein Kopf in den Nacken. Mein Körper fühlte sich müde an. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt gut geschlafen hatte. Aber an die Schlaflosigkeit war ich schon gewöhnt. Kurz schloss ich die Augen und zog das letzte mal das Gift ein.

Ich drückte die Zigarette in den vollen Aschenbecher und wandte mich wieder zur Aussicht. Die Sonne stand höher. Rote Wolken zogen sich über den Himmel.
Jeden Tag betrachtete ich den Sonnenaufgang. Sie erinnerte mich daran, dass es noch eine Hoffnung gab.
Ja, es gab eine Hoffnung, doch ob sie mich eines Tages trifft?
Ich lachte auf. Das klang fast wie ein Fremdwort. Mir kamen schon die Tränen hoch. Ich blickte in den Himmel und blinzelte die Tränen weg. Als ich mein Zimmer betrat, kam mir meine Katze entgegen.
„Konntest du auch nicht schlafen, Siyah?", fragte ich und nahm sie hoch. Der Name passte zu ihr, siyah bedeutet schwarz. Ich setzte mich auf die Bettkante und kraulte über ihr Rücken. Ich wusste, dass sie das mochte.

Ich ließ Siyah auf dem Bett zurück und stand wieder auf. Beim Vorbeigehen bemerkte ich, dass ein Bild an der Wand schief hing. Ich nahm den Rahmen runter und hing es erneut auf. An meiner Bilderwand hingen viele Zeichnungen, die symmetrisch zueinander standen. Mein Blick rutschte auf meinem Schreibtisch. Darauf lagen stapelweise Notizhefte und Blätter. Die Stifte lagen unordentlich auf dem Tisch.
Mein Bücherregal, dass darüber hing, war ordentlicher. Früher hatte ich mehr gezeichnet und geschrieben. Mir machte die Unordnung nichts aus. Außer mir kommt hier ehe keiner rein. Nur Siyah, und sie kümmert das nicht.

Ich wandte mich zu meinem Kleiderschrank und holte einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Hose raus. Mein Kleiderschrank war halb leer. Ich besaß nicht viele Kleidungsstücke. Und die, die ich besaß, waren hauptsächlich schwarz.
Ich zog mein Pullover wieder aus und warf es auf mein Bett. Als ich den Rollkragenpullover anzog, erstarrte ich kurz beim Anblick auf meinem Spiegelbild. Die tiefe Narbe über meiner linken Brust erinnerte mich immer wieder an die Nacht, in der die Wunde zustande kam. Wenn mir einfällt, wie viel Blut floss, wurde es mir schlecht. Überall trug ich kleine Verletzungen.
So ist das Leben als Devran Atahan. Du bist nirgendwo sicher. Entweder wirst du zum Vernichter, oder wirst von anderen vernichtet.
Entweder entscheidest du dich zu Kämpfen, oder wirst bekämpft.
Deswegen floh ich vor Jahren. Floh vor der Wahrheit, vor meiner Familie, vor mir...

Die Wunde der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt