42 - Fetzen

2.3K 115 38
                                    

Alles Mögliche war mir durch den Kopf gegangen. Aber das Szenario? Nie!
Davon hätte ich nicht mal träumen können. Das war so absurd und schockierend.
Meine Händen zitterten, während mein Herz sich zusammenzog und immer schneller schlug. Tränen schossen mir hoch.
Waren das Freudentränen? Was ging gerade in mir vor?
Ich verstand nichts mehr! Tief atmete ich die Luft ein. Ich verlor den Verstand! Was ich sah, war wirklich wahr!
Noch einmal blickte ich die beiden an.
Oh Mann! Das war die Realität! So viele Fragen trafen aufeinander. Wie konnte so etwas passieren? Warum und weshalb? Ich verstand nichts mehr.

Als ich aus meinem Versteck raustrat, wurde ich innerhalb ein paar Sekunden entdeckt. Entsetzte Blicke fanden mich. Blicke voller Freunde, Angst und Trauer. Ich glaubte nicht, dass ich sie nach Jahren vor mir sah.
„D-Devran?", stotterte Ferhat erschrocken. Mit mir hätte er gar nicht gerechnet. Seine Augen hatten sich weit aufgerissen. Er war mehr als fassungslos und konnte keine weitere Reaktion zeigen.
„Wie? Wie geht das?", versuchte ich zu verstehen und ging auf die beiden zu. Jeder Schritt ließ mich schwächer, aber gleichzeitig stärker fühlen.

„Devran!", hörte ich nach Jahren die Stimme, die ich geliebt hatte, die ich vermisst hatte. Ich glaube, ich war im Paradies gelandet! Die Welt konnte nicht so schön sein.
„Mutter!", krächzte ich kraftlos. Verschiedenste Gefühle loderten in mir. Ja! Meine Mutter stand vor mir! Ferhat hatte sich mit meiner Mutter getroffen. Ich kam nicht darauf klar! Meine Mutter? Ja...
Ihre Gesichtszüge hatten sich innerhalb 6 Jahren verändert. Sie wirkte nicht mehr so lebensfroh. Als ob man ihr die Farben vom Leben geklaut hätte. Aber an ihrer Schönheit hatte sich nichts verändert. Meine Mutter würde für mich immer die schönste Frau der Welt bleiben. 
Sie löste sich vom Fleck und rannte auf mich zu. Noch nie war ich so glücklich gewesen. Als wir uns in die Arme fielen, fühlte ich mich wie vom Blitz getroffen. Tränen flossen wie Meere über meine Wangen runter. Meine Mutter war doch verschwunden. Wie konnte sie hier, bei mir sein?

So fest ich konnte, umschlang ich die Arme um sie. Tief zog ich ihr Duft ein. Ich zog den Duft der Sehnsucht in mich ein. Von Sekunde zu Sekunde linderte sich der Schmerz meiner versteinerten Seele. Wie ein Wunder wirkte ihre Nähe. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Nichts interessierte mich mehr.
Es gab nur meine Mutter und ich. Nur wir zwei und unsere Liebe zueinander. Alles andere war mir so egal. Ich hatte meine Mutter nach Jahren gefunden! Die Sonne ging wieder im Land der Finsternisse auf. Die Wärme breitete sich in mir aus.

Schluchzend löste sich meine Mutter von mir und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände.
„Mein Sohn! Mein Devran!", wisperte sie sehnsüchtig.
„Ich habe dich so vermisst!", brachte ich schwer über die Lippen und gab ein Kuss auf ihre Handinnenfläche. Fest umklammerte ich die Hand.
„Du hast mir so gefehlt Mama! Wo warst du? Was haben sie dir angetan, dass du dich versteckt hast? Was machst du hier?", quollen die Fragen in mir raus.

„Mein Sohn! Ich musste alles für uns tun! Es tut mir so leid...", versuchte sie ohne zu Schluchzen zu erklären.
„Verlass mich bitte nie wieder mehr!", bat ich, flehte ich beinahe und fiel ihr erneut um den Hals. Ihr Körper bebte bei jedem Schluchzer.
Lange blieben wir in dieser Position stehen, denn es war das meiste, das wir gerade brauchten.
Ferhat, der bestürzt neben uns stand, hatte auch Tränen in den Augen bekommen. Er sah zutiefst berührt aus.
„Danke Ferhat, dass du mich zu meiner Mutter gebracht hast! Ich weiß zwar nicht, ob du etwas Gutes oder Schlechtes vorhattest, aber du hast mir ein Wunsch erfüllt.", bedankte ich mich.
„Ich hatte keine bösen Absichten! Das ist so eine lange Geschichte.", erklärte er.

Auf einer Treppenstufe, die zum Meer blickte, hatten wir uns hingesetzt. Meine Mutter und ich saßen nah beieinander.
„Du hast viele Fragen Devran, ich weiß... Ich werde dir alles erzählen.", versprach sie mir.
„Ja, bitte! Ich will verstehen, was hier vor sich geht."
Scharf zog sie die Luft ein, bevor sie anfing zu reden. Die Ungewissheit in mir plagte mich. Wie kam es dazu, dass Ferhat mit meiner Mutter zusammenarbeitete? Das ergab alles kein Sinn. Ich war einerseits wütend. Wie konnte meine Mutter so lange ihre Identität vor uns verstecken? Wieso? Was haben wir ihr angetan, dass sie untergetaucht ist?

Die Wunde der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt