29 - Tunnelblick

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„Komm rein. Geht's dir gut?", fragte ich und ließ ihn rein.
„Du hast gesagt, dass du immer eine offene Tür für mich hast. Nun bin ich hier.", trat er rein.
„Du hast das richtige getan. Das ist auch dein Zuhause Yaman.", erklärte ich. Ich war immer noch schockiert. Mein Bruder war zu mir gekommen. Ich hatte sein Vertrauen gewonnen, dass er Zuflucht bei mir suchte.
Auf der Couch setzten wir uns hin. Kurz schaute sich Yaman um.
„Soll ich uns etwas Warmes zu Trinken vorbereiten?"
„Nein. Ich will nichts.", lehnte er ab.

Die Stille traf ein. Ich wusste ehrlich gesagt nicht wie ich anfangen sollte zu reden.
„Was ist passiert Yaman?"
„Das was passieren musste. Ich habe es genug von der Kommandierung! Ständig wird mir vorgeschrieben, was ich machen soll und nicht. Ich kann das nicht mehr dulden! Ich kann nicht mehr bei meinem Opa wohnen...", begann er zu erzählen. Anscheinend hatten sie sich zuhause gestritten und es ging so weit, dass Yaman seine Sachen gepackt und gekommen war.
„Das ist das Problem unserer Familie. Wir werden von Beginn an in eine Ideologie eingeboren. Unser Leben wird vorbestimmt.", kam ich zu Wort.
„Es ist grauenvoll welches Leben mein Opa führt! Was wir alles erleben müssen... Ich wurde entführt. Öykü und ich müssen mit Wachen draußen rumlaufen. Das ist nicht normal. Ich kann nicht mehr! Meine Meinung interessiert niemanden. Ich gehöre nicht in die Ideologie unserer Familie... Ich kann nicht mal Schnittwunden sehen. Wie soll ich da Menschen umbringen? Ich habe ein Gewissen, das ich nicht verlieren will."

Entschlossen blickte Yaman in meine Augen. Mein Bruder war auf dem richtigen Weg. Er sollte unversehrt bleiben. Für meine Geschwister würde ich meine Hand ins Feuer legen, damit sie ein normales Leben führen könnten.
„Abi, nach Jahren fühle ich mich wieder stark und in Schutz, weil du da bist! Als du mich von Ferhat befreit hast, wollte ich in deine Arme springen, aber meine Frust hat es nicht zugelassen. Ich war enttäuscht auf dich, weil du Öykü und mich in Stich gelassen hattest. Aber ich habe unsere alten Zeiten vermisst. Du warst immer mein Beschützer und Retter. Bitte lass mich dieses Mal nicht los!", fügte er hinzu.
Die Worte hatten die Wirkung eines Balsams.

„Ich lasse dich nicht los Yaman.", versprach ich und packte ihn an der Schulter.
„Da, wo ich dich wieder gefunden habe, werde ich alles für dich tun."
Ein Lächeln ging in seinem Gesicht auf.
„Wir werden unser altes Leben wieder aufbauen.", vergewisserte ich. Bedenklich blickte er runter.
„Öykü wird so sauer auf mich sein."
„Sie wird auch irgendwann kommen."
„Das hoffe ich. Ich habe sie zurückgelassen, denn ich wusste, dass sie nicht mit mir kommen würde.", zweifelte er.
„Das werden wir schon klären. Komm, steh auf. Ich werde dir dein Zimmer zeigen.", beendete ich das Thema und stand auf.
„Du hast ein Zimmer für mich vorbereitet?", gab er verwundert von sich und folgte mir.
„Ja. Ich wollte nicht aufhören daran zu glauben, dass du eines Tages kommen würdest.", erklärte ich und schloss die Zimmertüre auf. Nachdem das Licht anging, schaute Yaman sich überrascht um.

„Es steht zwar nicht viel da, aber den Rest wollte ich dir überlassen.", fügte ich hinzu. Im Raum befand sich ein Bett, ein Kleiderschrank und Gardinen.
„Dass du mich aufgenommen hast ist mir schon genug.", wandte er sich zufrieden zu mir.
„Reden wir morgen einfach weiter. Ruhe dich jetzt aus.", ließ ich ihn zurück und ging in mein Zimmer hoch.
Das Lächeln in meinem Gesicht verging nicht. Yaman war gekommen.
Wir werden alles nachholen, was wir in den sechs Jahren verpasst hatten. Auf den Tag hatte ich lange gewartet.
Das alles war dank Damla passiert. Hätte sie mir nicht die Karte zugeschickt, wäre ich nicht zum Aufritt gegangen. Ich glaube sie verdiente ein Dankeschön.

Als ich mich schlafen Bett legte, fing mein Handy an zu klingeln. Ich hatte es vergessen auf Flugmodus zu stellen. Onkel Kadir erschien auf dem Bildschirm.
„Hallo Devran?", ertönte die panische Stimme meines Onkels.
„Ja, Onkel Kadir?"
„Yaman ist von Zuhause abgehauen! Er hat seine Sachen gepackt und ist weggefahren. Wir können ihn nicht erreichen.", begann er zu erzählen.
„Beruhige dich. Er ist hier, bei mir.", teilte ich mit.
„Was?"
„Yaman ist zu mir gekommen. Er ist in Sicherheit."
„Was du nicht sagst... Wirklich? Yaman ist bei dir?", konnte er es nicht fassen.
„Ja.", gab ich lachend von mir.
„Sag meinem Opa nur, dass er in Sicherheit ist. Ich werde morgen mit ihm reden."
„Na gut Devran. Das überrascht mich jetzt. Yaman konnte die Sehnsucht nicht länger aushalten. Ich wusste, dass er irgendwann zu dir kommen würde. Dir noch eine gute Nacht."
„Es hat mich auch überrascht. Gute Nacht.", legte ich auf.
Yaman hatte ab jetzt ein neues Zuhause...

Die Wunde der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt