31. May

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Montag, 22. Dezember 2009

Es gibt zwei Arten von Wut.

Die erste ist heiß und feucht. Ein Topf Wasser, der solange unbeaufsichtigt auf dem Herd steht, bis der irgendwann überkocht. Druck muss entweichen. Dieses Prinzip treibt Maschinen seit zwei Jahrhunderten an. Es setzt den Körper in Bewegung, lässt ihn sich aufbäumen und schluchzen, bis man seine eigene Stimme nicht mehr versteht. Verklingt die Wut, verschwindet jegliche Energie mit ihr. Der Druck wurde entlassen. Man findet sich an einem tieferen Punkt wieder als man begonnen hat. Er hinterlässt ein Loch und Salz auf der Wange. Doch wer im Loch sitzt, kennt nur eine Richtung: Nach oben.

Die zweite Art ist ebenfalls heiß. Heiß und trocken. Eine Wüste. Statt mit Dampf betreibt sie den Körper mit der Hitze der Sonne. Das nukleare Feuer verbrennt alles in seinem Weg. Man sagt Dinge, die man nicht so meint und doch irgendwie schon. Die trockene Wut kann einen länger am Laufen halten als ihre feuchte Schwester. Ein unterirdisches Feuer, dem der Treibstoff nie ausgeht.

Kinder durchleben vor allem die feuchte Wut. Ich war so. Ben, Samira, Loa und Elias waren so. Und Tausende, Millionen vor uns.

Manche Menschen legen die feuchte Wut nie ab. Doch irgendwo auf dem Weg zum Erwachsenwerden verlieren Halbgötter die Fähigkeit, sich von ihr antreiben zu lassen. Angestauter Zorn kann sich immer noch explosionsartig Bahn brechen. Nur ohne Tränen. Wir haben keine Zeit, wertvolle Energie aufs Weinen zu verschwenden.

Wir sind Wesen der trockenen Wut. Geboren aus der Abwesenheit und dem Desinteresse unserer Eltern befeuerte sie die Rebellion. Jetzt treibt sie unserer Flucht an, windet sich durch Charlies Elektronik und meine Innereien.

Wenn ich an Samira denke, wünsche ich mir die feuchte Wut zurück. Ich will auf etwas einschlagen, will toben und wüten, bis mir der Atem versagt. Stattdessen knabbere ich in einem 70er-Jahre-Motelzimmer am Knäckebrot, das Loa mir aufgezwungen hat und blättere durch mein Notizbuch auf der Suche nach dem Fehler, durch den alles bergab gegangen ist und nach der magischen Lösung. Mit dem Finger zeichne ich die Schlachtpläne und Truppenbewegungen auf den eingeklebten Karten von Manhattan nach, spiele die verschiedenen Szenarien von damals noch mal durch. Schließlich ziehe ich den Filzstift aus meiner Hosentasche und kritzle eine mitternachtsblaue Linie über jede Version der Williamsburg Bridge, bevor ich weitersuche. Ein Grundriss von Hütte 16, die Wackelfliesen rot hervorgehoben. Die Liste, wer alles was herumschleppt. Ich umklammere den Stift und korrigiere die Rationierung meines Ambrosias nach unten. Die frische Tinte hinterlässt ein mitternachtsblaues Blütenmeer auf den zwei folgenden Seiten. Einzelne Wörter vom ersten Tagebucheintrag unserer Flucht kann ich nicht mehr entziffern. Frustriert ramme ich den Deckel auf den Stift. So verunstalte ich nur mein Notizbuch.

Bei der Verbrennung von Ethans Leichentuch habe ich nicht geweint. Auch heute bleiben meine Augen trocken.

Ben tritt aus dem Bad, die sonst hellbraunen Haare kleben dunkel an seinem Kopf. Der Geruch von Sauberkeit und Seife hat etwas Beruhigendes. Dafür, dass er heute Nacht die zweite Schicht bei Samira übernommen hat, wirkt er erstaunlich wach.

„Wonach hältst du Ausschau?" Er setzt sich neben mich aufs Bett.

„Nach dem nächsten sicheren Ort. Nach einem Gegenmittel für Amphisbaena- oder Ambrosia-Vergiftungen." Ich schlage das Buch zu.

„Ablenkung?"

„Nicht wirklich. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich jetzt nicht ablenken. Es wäre falsch." Meine Stimme bricht. „Wir müssen etwas tun können. Irgendetwas."

Bens Hand legt sich auf meine. „Es ist nicht deine Schuld, May."

„Doch! Ich hab sie darum gebeten, mitzukommen. Dieser ganze Plan war meine Idee. Ich hätte bei dem Streifzug zum Fundbüro mitkommen sollen. Erst Loa, jetzt Sami-"

Arma posterosque cano - Eine MMFF zu Percy JacksonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt