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Dienstag, 23. Dezember 2009

Schneewolken hängen über der abendlichen Stadt. Ihre Lichter reflektieren sich in den Eiskristallen und setzen den Himmel in Brand. Wir befinden uns in einer orange glühenden Kuppel, unter der keine Sterne existieren außer den von Menschen erschaffenen.

Der Atem vor meinen Mund gefriert. Ich wickle mich fester in meine Jacke und lausche auf das Rauschen des fernen Highways. Neben mir steht eine Thermoskanne Tee, doch die haben wir schon vor einer Weile geleert. Bis zum Wachwechsel kann es nicht mehr lange dauern.

Als ich aufstehe und an die Fensteröffnung trete, kribbeln meine Beine. Ich recke den Kopf in die kühle Winterbrise. Irgendwo im Norden glaube ich, das schwarze Glänzen des Mississippi durch die Häuserschluchten zu erkennen. In St. Louis vereinigt er sich mit dem Missouri, um seinen langen Weg bis zum Golf von Mexiko anzutreten. Er trennt Ost und West, die Südstaaten und den Mittleren Westen. Er ist die große Grenze des alten Amerikas, dem Amerika der Dampfschiffe und des Bürgerkrieges.

Den Gateway Arch kann ich von hier aus nicht entdecken. Doch er muss dort sein, auf der anderen Seite des Flusses, verdeckt von Hochhäusern. Inzwischen wurde er sicher repariert. Selbst ihn musste Jackson beschädigen. Er zieht eine Schneise der Zerstörung hinter sich her, wohin er auch geht. Vielleicht sollte Chase den Katastrophen der letzten Tage folgen, dann findet sie ihn schnell.

„Ablösung", verkündet eine Stimme und ich drehe mich um.

Zwei Mädchen und ein Junge leuchten mir und den beiden anderen Wachen aus der maroden Türöffnung entgegen. Eines der Mädchen trägt einen Schlafsack um die Schultern geschlungen, jeder von ihnen hat eine Thermoskanne dabei. Sie werden bis Mitternacht Wache halten, dann folgt die nächste Drei-Stunden-Schicht.

Wir nicken ihnen zum Abschied zu. Da bis auf eine im Wind über den Parkplatz treibende Plastiktüte nichts Auffälliges passiert ist, haben wir nichts zu berichten und können schnell aus der Kälte raus.

Chthonian bedeutet unterirdisch. Kein Name ist passender.

An der Kellertür begrüßen uns zwei neue Wächter. Jeder soll einmal am Tag eine Schicht im Gebäude oben und eine kürzere am eigentlichen Eingang übernehmen. Wenn weitere Halbgötter dazustoßen, werden Anna und Hanno meinen Plan umsetzen und Außenposten in den umliegenden Straßen einrichten. Bei dem Gedanken muss ich lächeln. Endlich kann ich wieder etwas Sinnvolles beitragen, obwohl mich das Gefühl beschleicht, dass sie sowieso bereits mit dieser Idee gespielt haben. Doch ich straffe die Schultern. Eine Bestätigung ist nichts Schlechtes und ich darf bei der Auswahl dieser Außenposten mitentscheiden.

Die Trainingshalle empfängt uns mit einer warmen Umarmung. Die Luft sticht angenehm gegen meine Haut und ich knöpfe die Jacke auf. Am Schlafraum Nr. 1 verabschiede ich mich von meinen Begleiterinnen – Ajala, eine Tochter des Herakles, und Zola, eine Enkelin des Ares. Ich erhasche einen Blick durch den Türspalt, doch von Ben fehlt jede Spur.

Der Speisesaal ist leer. Ich trete hinter die Theke in den Kochbereich und überprüfe den Wasserkocher. Noch warm, aber zu wenig Wasser. Kurz wandert mein Blick zur Kaffeemaschine und ich beiße mir auf die Unterlippe. Nein. Heute Nacht habe ich zum ersten Mal seit Tagen mehrere Stunden am Stück durchgeschlafen und morgen Vormittag bin ich erneut für den Wachdienst eingetragen. Also habe ich keinen Grund, extra lange wachzubleiben.

Ich befülle den Kocher und ziehe den Pappkarton mit den Teesorten, die wir heute erbeutet haben, unter der Arbeitsfläche hervor, während das Wasser erhitzt. Wer immer es für eine gute Idee hielt, diese Kiste mitzunehmen, war geisteskrank.

Ich wühle mich durch die Packungen, auf der Suche nach etwas, das trinkbar klingt. In der Thermoskanne war Schwarztee, aber warum finde ich den nicht hier? Tomate-Minze und Fenchel-Gewürz klingen noch am verträglichsten, bei Karotte-Curry läuft mir ein Schauer über den Rücken und die bloße Vorstellung von Rote-Beete-Kohl dreht mir den Magen um. Die Wahl fällt auf Erdbeer-Käsekuchen, weil ich den zumindest kenne und die Aphrodite-Kinder auf ihn schwören. Von ihnen musste noch nie jemand wegen einer Tee-Vergiftung auf die Krankenstation (außer dem einen Mal, als die Hekate- und Hermes-Hütte sich bei Erobert-die-Flagge verbündeten).

Arma posterosque cano - Eine MMFF zu Percy JacksonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt