39. Samira

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Donnerstag, 25. Dezember 2009

Der Bogen ist eine seltsame Waffe. Die meisten Menschen unterschätzen erstens, wie viel Kraft das Spannen erfordert. In Filmen und Büchern schießen häufig Frauen mit Pfeil und Bogen, weil die Entfernung ihnen angesichts einer durchschnittlich geringeren Körperkraft mehr Sicherheit bietet. Ja, Frauen können genauso stark wie oder stärker als Männer sein, doch die Muskelmasse einer fiktiven Schützin würde in der Realität nicht ausreichen, um das volle Potential des Bogens auszuschöpfen. Wenn also ein zierliches Mädchen in einem Buch einen Bogen nutzt, ist das ein großer Haufen Harpyiendreck. Sie sollte lieber zu einem Langschwert oder einer Armbrust greifen.

Die zweite Seltsamkeit des Bogens ist, dass man seine gute Hand nicht benötigt, um zu schießen. Man schießt nicht mit der dominanten Hand, sondern mit dem dominanten Auge. So lautete der Hinweis, den mir Dylan zubrüllte, als der kithaironische Löwe mir in der sechsten Klasse auf der Schultoilette die Kehle herausreißen wollte. Deshalb spanne ich die Sehne heute noch mit der linken Hand und nicht mit der rechten und vergewissere mich vor dem Auf-die-Toilette-gehen immer, dass die Armbänder noch da sind. Natürlich war das damals ein anderer Bogen als heute, Holz und weniger Zugkraft, weil Satyre sich mit himmlischer Bronze nicht so wohlfühlen wie mit einem guten Stück Eibe und Dylan ihn im Notfall nicht als Snack verwenden konnte.

Seitdem vermehrt Halbgötter ins Camp geschafft werden, habe ich ihn nicht mehr oft gesehen, was vielleicht auch besser ist. Wie die meisten Satyre hielt er im Krieg zum Olymp und auf das anklagende Schweigen können wir beide verzichten. Trotzdem... es ist schade, wie man sich auseinanderlebt.

Bahrijas dominantes Auge liegt rechts. Ich korrigiere die Haltung ihres Armes und trete zurück. „Zielen. Jetzt spannen, nicht versuchen ihn zu halten", weise ich sie an.

Der Pfeil schnellt von der Sehne und segelt an der Säule vorbei. Von irgendwo weiter hinten in der Halle ertönt ein Quieken. Der Pfeil ist nicht mal in die Nähe der Zielscheibe gekommen.

„Sorry!", rufe ich, „Wir sammeln ihn gleich ein. Wurde jemand verletzt?"

„Spinner!", hallt die Antwort zurück. Das werte ich als nein.

„Das ist nichts für mich", murmelt Bahrija und drückt mir den Bogen in die Hand, als handele es sich dabei um einen nuklearen Sprengsatz und nicht um eine archaische Metallstange.

Ich zucke mit den Schultern und streiche im Zickzackmuster über die Bronze, die sich daraufhin in ein Armband zurückverwandelt, das ich mir über das Handgelenk streife. „Bleib bei Schwert und Dreizack."

Wie gesagt, nicht jeder besitzt genügend Kraft für einen Bogen.

Ich entdecke den Pfeil kurz vor dem letzten Drittel des Trainingsbereiches. Sein goldener Schimmer ist im Sand nicht zu übersehen.

Sand. Heute Nacht habe ich wieder von der Insel und dem Strand geträumt, doch es war nur eine kurze Episode in einem Meer aus diffusen, ineinander verschwimmenden Bildern. Die Stimmen aus der Burg waren diesmal ebenfalls dort, nicht klarer, aber in Körper aus Schatten gehüllt, beinahe greifbar.

Ich schiebe den Pfeil in den Köcher und verwandle auch ihn zurück.

Dass die Karte will, dass ich weiterziehe, trägt nicht dazu bei, meine Unruhe aus dem Weg zu fegen. Es ist, als würde ich den sich zusammenbrauenden Schneesturm draußen körperlich spüren.

„Sind die Wachdienste immer so langweilig?", frage ich Bahrija, als ich auf unserem Posten zurückkehre.

„Hanno führt ab und zu Überraschungsangriffe an, um unsere Reaktionszeiten zu testen und uns alarmiert zu halten", erklärt Bahrija.

Arma posterosque cano - Eine MMFF zu Percy JacksonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt