Kapitel 61 - Schalentiere - Kyra

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Mit dem Kopf auf die Hand gestützt schaute ich aus dem Fenster, beobachtete verträumt die vielen Sing- und Krähenvögel, die dort am Himmel ihre ganz individuellen Bahnen flogen. Die Sonne war schon längst an ihrem Zenit vorübergezogen, in etwa zwei Stunden wird sie untergegangen sein. Saßen wir echt schon so lange hier? Das Gefühl hatte ich gar nicht. Das Dog-Spiel war um die Mittagszeit, also bereits mehrere Stunden her. Seitdem hatte Lysander aus den wenigen Versen in seinem Notizbuch einen kompletten Text gezaubert, aus meinen halbgaren Tonfolgen wurde eine richtige Melodie. Wir hatten einen kompletten Song komponiert! Das hatten wir bisher noch nie getan. Obwohl wir schon einige Jahre befreundet waren, führte unsere Zusammenarbeit bei der Komposition nie über wenige Ratschläge meinerseits hinaus, wenn er mal welche benötigte. Und noch seltener begleitete ich einen seiner Songs mit meinen Klavierkenntnissen. Wenn ich so im Nachhinein darüber nachdachte, konnte ich gar nicht wirklich sagen, woran das gelegen hatte. Ich hatte nie gefragt, ebenso wenig wie er. Ich hatte meine eigenen Leute in der Schule, mit denen ich dann und wann musizierte und der Silberschopf hatte Castiel, der hobbymäßig ebenso gut und gerne Melodien komponierte wie ich. Vielleicht lag es daran, dass unsere Musikgeschmäcker voneinander abwichen? Die beiden waren fast ausschließlich im Rock unterwegs, ich hingegen mochte Pop, Hip-Hop und Klassik am liebsten. Und dennoch... als wir über diesem Song gebrütet hatten, ging uns das so leicht von der Hand, wir harmonierten miteinander wie die Wörter und Noten, die wir so kunstvoll aufeinander abstimmten. Ich erwischte mich des Öfteren, wie auf der Suche nach der nächsten richtigen Tonfolge mein Blick zu Lysander wanderte. Meistens saß er dabei über sein Notizbuch gebeugt, schaute es mit einem vollkommen ausgeglichenen Gesichtsausdruck an, während er vor sich hin sinnierte oder diesem neue Verse hinzufügte. Ich konnte nicht sagen, ob die Noten nur so auf mich einströmten, wenn ich ihn betrachtete oder ob der Fluss zum Erliegen kam, da mich sein Antlitz total davon ablenkte. Möglicherweise war es sogar ein Mix aus beidem – sie strömten auf mich ein, ohne dass ich sie wirklich zu fassen bekam. Ganz komisches Gefühl, ein Gefühl, dass ich nicht so recht einzuordnen vermochte.
   Aber nun, wo ich - ganz bei mir selbst - aus dem Fenster schaute, fiel mir auf einmal wieder ein, was ich empfunden hatte, kurz nachdem er mir erklärt hatte, dass er mir trotz meines Fehltrittes mit dem Schnüffeln nicht böse wäre. Ich wollte ihn küssen. Und wäre das nicht schon schockierend genug, passierte mir das nicht mal zum ersten Mal. Das Bedürfnis hatte ich erst zuletzt in der Schule, an Leonies Geburtstag, kurz vor – oder während oder nach – meinem halben Nervenzusammenbruch. Nach der ganzen sing-mir-was-im-Mondlicht-vor-Sache, der darauffolgenden Vermeidung eines Zusammentreffens, dem letztendlichen Zeigen meiner Collegeblock-Einträgen. Auch da hatte ich dieses merkwürdig drängende Verlangen, seine direkte Nähe zu fühlen, ihm näher zu sein, als irgendwem anderen. Unter der danach folgenden heißen Dusche wurde mir klar, dass er mich zurückgewiesen hätte, es auf meine emotionale Verwirrtheit und labile Psyche geschoben hätte, so zu reagieren. Und nach wie vor war ich der Meinung, dass er damit Recht gehabt hätte. Also, dass ich es aus diesen Gründen getan hätte. Die Parallele zum jetzigen Beispiel war nämlich sehr klar vorhanden, auch hierbei war ich – wenn auch kurz - emotional erschüttert gewesen beim Gedanken daran, sein Vertrauen missbraucht zu haben. Doch... nun fragte ich mich, ob er mich tatsächlich zurückweisen würde. Beziehungsweise ob er nach anfänglichen Zweifeln vielleicht doch nachgeben würde? Würde er? Und würde ich das bei ihm dann auch auf eine psychische Zerrüttung schieben, verursacht von der leibhaftigen Apokalypse? Denn auch, wenn er die meiste Zeit ganz er selbst zu sein scheint, konnte ich mir unmöglich vorstellen, dass der Weltuntergang nicht auch ihn innerlich zerfraß.
   Mir war, als läge etwas in seinen Augen, wenn er mich ansah, das ihn mich vielleicht doch nicht zurückweisen lassen würde. Dass er... sich wie ich manchmal einfach nach einem vertrauten Menschen sehnte? Dass er...
   Mit einem Mal war ich mir überhaupt nicht mehr sicher. Ja, da lag irgendetwas Undefinierbares in seinen Augen, allerdings konnte ich bei Weitem nicht behaupten, mich mit Lys Gefühlswelt auszukennen bei allem, was sich auch nur ansatzweise in diese Richtung bewegte. Zu Beginn unserer Freundschaft, wir kannten uns nicht einmal ein halbes Jahr, erfuhr ich, dass er in Rosalia verliebt war, die Freundin seines Bruders. Seine Augen schrien vor unerwiderter Liebe, nachdem ich dahintergekommen war. Doch das war's dann auch. Seitdem hatte Lys nie wieder Gefühle für jemanden, geschweige denn anderweitig etwas mit einem Mädchen am Laufen. Zumindest konnte ich seither nie wieder etwas derartig Intensives in seinen Augen lesen. Ich wusste nicht, welche Geschichten seine Augen erzählten, wenn er glücklich verliebt war, wenn er sich auf liebende Weise nach jemandem sehnte und schon gar nicht, wenn er sich auf irgendeine Weise sexuell zu jemandem hingezogen fühlte. Bei Gott, ich wusste nicht mal, ob er nicht einfach asexuell war! Da konnte ich mir noch so viel einzureden versuchen, wenn er es nicht deutlich zeigte, würde ich es partout nicht wissen können.
   Dabei... würde ich es gerne wissen... Aber es war wohl für jedermann - und vor allem mir mich selbst - besser, nicht weiter darüber nachzudenken, wieso ich es wissen wollte.
   Nach einer ganzen Ewigkeit, wandte ich den Blick vom Fenster ab und schaute zu Lysander. Er zeichnete etwas in sein Buch. Neugierig versuchte ich hineinzulinsen, doch das bemerkte er und schirmte es mit seiner freien Hand ab. Schmollend lehnte ich mich im Stuhl zurück, sah ihn beleidigt an. Er grinste nur leicht. "Gleich", war alles, was er dazu sagte.
   "Gleich" dauerte mindestens fünf lange Minuten, wenn nicht sogar zehn. Erst dann zeigte er es mir. Meine Wangen wurden warm, als ich einer Skizze von mir selbst, verträumt aus den Fenster schauend, entgegenblickte. Um meinen Kopf schwebten zwei tierische Scheren und ein paar wenige Schlagworte, die mich verwirrt die Augen zusammenkneifen ließen. Erst nach wenigen Sekunden wurde mir klar, dass das Krebsscheren darstellen sollten und die Worte typische Charaktereigenschaften waren, die dieses Sternzeichen beschrieben. Worte, die auch auf mich zutrafen. Ich war Krebs. Und ich hatte schon immer eine kleine Faszination über Sternzeichen übrig.
   Lysander war genauso wie ich kein großer Zeichner, aber sie war trotzdem gut erkennbar und darüber hinaus total süß.
   "Das ist hübsch geworden", lächelte ich ihn an. "Danke. Ich würd' auch gern, darf ich?"
   Er reichte mir zustimmend sein Notizbuch und nachdem ich ihn mir einige Augenblicke lang angeschaut hatte, den Bleistift dabei nachdenklich gegen meine Lippen tippend, machte ich mich meinerseits ans Werk. Ich musste etwas wählen, was perspektivisch möglichst leicht war, jedoch ohne, dass er einfach langweilig geradeaus einem ins Gesicht schaute. Also zeichnete ich ihn mit einem leicht angewinkelten Arm auf dem Tisch, in dem er sein Notizbuch hielt und darin las. Es dauerte allerdings viele, viele Minuten, bis ich einigermaßen zufrieden damit war. Was Lys während dieser Zeit trieb konnte ich nicht sagen. Zwar schaute ich hin und wieder auf, wie um zu überprüfen, ob er noch genauso aussah, wie eine Minute zuvor, doch ich war gedanklich zu vertieft in meiner Zeichenwelt, als sonst etwas wirklich zu realisieren. Oder zu enttäuscht von diesen hässlichen Skorpionscheren und dem hässlichen Skorpionschwanz. So sahen die bestimmt nicht aus! Recherierchen, wie sie aber tatsächlich aussahen, konnte ich gerade schlecht. Also machte ich mir lieber Gedanken darum, welche Attribute ich um ihn herum schreiben würde.
   Wieder sah ich ihn an, dieses Mal bewusst. Er sah ein wenig gelangweilt aus, was nicht weiter verwunderlich war, wenn ich seine einzige Beschäftigungsquelle in Beschlag hatte. Vielleicht dachte er auch nur wieder über irgendetwas nach. Oder träumte. Oder alles davon. Es war schon immer schwer gewesen, zu erraten, was genau er tat und woran er dachte. Er teilte einem seine Gedankengänge nur selten von sich aus mit. Wenn er es allerdings tat, dann handelte es meistens von etwas, das er gern mochte, das ihn begeisterte. Er stand immer voll und ganz hinter dem, was er sagte und tat und mochte. Er ließ sich nichts Anderweitiges von anderen einreden. Er respektiere andere Meinungen, doch oft genug waren sie ihm total egal, insbesondere dann, wenn er meinte, dass es den anderen ohnehin nichts anzugehen hatte. Und sollten sie sich ihm selbst in den Weg stellen, er würde sein Ding immer durchziehen, wenn er davon überzeugt war.
Wie von allein schrieben sich die folgenden Wörter rund um die Zeichnung.

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt