Patricia nahm aus ihrem Friseursalon nicht viel mit. Ein paar Flaschen Wasser gesellten sich zu unserem Gepäck, sonst nichts. Um ihren Körper trug sie aber noch ein Set an Friseurutensilien in einem speziellen Friseurgürtel mit sich. Ich konnte nicht genau sagen, ob sie die als Waffen bedachte oder als gelegentliche berufliche Ablenkung. Da ich mir allerdings nicht vorstellen konnte, dass sie jemanden mit einem Kamm würde töten können, vermutete ich Zweiteres. Ich meinte, was gab es denn schon Wichtigeres, als einen guten Haarschnitt in einer Apokalypse?
Ich schaute in den Spiegel und band mir meinen Zopf neu. Durch die ganzen Rangeleien lag meine Haarpracht kreuz und quer und schränkte bereits meine Sicht ein. Haare konnten so nervig sein.
„Kyra, warte." Hinter mir tauchte Laetis dunkelbraunhaarige Mutter auf, ihr Spiegelbild lächelte mich an. „Ich mach' dir eine hübsche Flechtfrisur. Geht natürlich aufs Haus."
Ich wusste, sie versuchte die Stimmung zu lockern, aber die Aussicht, gleich wieder raus zu müssen, zu denen zu müssen, breitete sich in meinem Magen aus wie Säure. Und dabei sprach ich nicht von der verträglichen Magensäure. Die Zeit der Erholung war einfach viel, viel zu kurz gewesen.
„Nicht nötig, Patricia. Das wäre reine Zeitverschwendung, in Anbetracht der Tatsache, dass sie wohl sehr schnell wieder zerstört sein wird", erwiderte ich wehmütiger, als mir lieb war. Früher hätte ich so ein Angebot nie ausgeschlagen. Ich liebte geflochtene Haare. Ich hatte auch Leonie immer gern die Haare geflochten. Nun gehörte es zu den unnötigsten Sachen, die ich mir vorstellen konnte.
Die Friseurin hörte aber nicht auf das, was ich sagte, sondern nahm einfach fix eine Bürste, mein Zopfgummi und meine Haare zur Hand und begann, sie zu kämmen und an der Seite zu flechten. „Weißt du", meinte sie zwischendurch dann sanft, „wenn die Lebensweisheit ‚Genieße die kleinen Dinge im Leben' jemals wahr gewesen sein sollte, dann war sie es jetzt umso mehr."
Mehr sagte sie nicht. Und ich sagte auch nichts. Also schwiegen wir uns an, bis sie mit meiner Frisur fertig war. Am Ende hatte ich einen Dutt mit seitlich eingeflochtenem Haar. Es sah sehr schön aus und ich meinte zumindest ein wenig zu verstehen, was sie soeben gesagt hatte.
„Können wir dann?"
Bei der tiefen Stimme zuckte ich zusammen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie mein Bruder und Laeti uns im toten Winkel des Spiegels beobachtet hatten.
Ich nickte. „Ja."Es war kein langer Weg mehr bis zum Arbeitsplatz meines Vaters. Zehn Minuten vielleicht. Hier und da trafen wir auf ein paar Infizierte auf der Straße und wenn sie mir komplett im Weg waren, schaffte ich es sogar, meinen Golfschläger auf Höhe ihres Kopfes zu halten. Die Geschwindigkeit erledigte den Rest. Überprüfen, ob sie auch wirklich tot waren, konnte ich aber nicht. Das kurze laute Krachen musste als Bestätigung reichen, ich wollte es nicht auch noch sehen. Doch dann... waren wir endlich da. Wir hatten es tatsächlich geschafft. Wir waren als Duo aufgebrochen und kamen sogar mit zwei Leuten mehr genau hier an und nicht mit zwei Leuten weniger. Das war schon ein richtiger Erfolg. Nun musste ein anderer Erfolg erfolgen. Nämlich der, über diesen Zaun in dieses, sagten wir, Hauptgebäude Bostons für irgendwie alles, was mit Internet und Telenetz zu tun hatte, zu gelangen. Ich konnte mir vorstellen, warum Papa nicht sein Versprechen gehalten hatte, bald Heim zu kommen. Er wurde hier gebraucht, auch wenn ich nicht wusste, wofür. Aber es würde wohl schon was Wichtiges sein. Etwas so Wichtiges, dass es begründete, die eigenen Kinder Kilometer entfernt allein in einer verseuchten Gegend ausharren zu lassen. Es musste einfach so sein.
„Und wie kommen wir da jetzt rein?", fragte Laeti, die aus dem Auto gestiegen war und sich den hohen Zaun anschaute. Oben waren solche Zacken angebracht, die verhindern sollten, dass sich Vögel darauf niederließen. Oder Menschen.
Ohne zu antworten, lief ich den Zaun einige Meter auf und wieder ab. Eine gute Frage. Aufgespießt werden wäre schlecht, unten durch praktisch unmöglich. Bolzenschneider hatten wir auch nicht und wäre zudem nur eine gute Idee, wenn wir unbedingt scharf darauf waren, dass feindselige Wesen ihren Weg mit rein fanden. Viele Optionen blieben uns also nicht.
Ohne weiter darüber nachzudenken, betätigte ich eine Art Klingel am Haupttor. Alles, was zu hören war, war ein leises Surren, ein Signalton, dass die Klingel betätigt worden war. Ein extremes Wehmuts-Gefühl überkam mich, zu sehr erinnerte mich dieses Geräusch an das vertraute Klingeln an normalen Wohnungen zu normalen Zeiten.
Einige Sekunden lang geschah gar nichts. Ich tauschte einen besorgten Blick mit meinen Leidensgenossen, bis die Sprechanlage plötzlich ansprang: „Wer ist da?" Die Stimme war feindselig und definitiv die von meinem Vater.
„Papa! Papa, ich bin's, Kyra!"
„Was?!" Seine Stimmlage veränderte sich auf einen Schlag und klang fast so, als würde er gleich einen Herzinfakt bekommen. „Was zum Teufel machst du hier? Bist du allein?"
„Nein. Nein, ich..." Etwas überfordert sammelte ich meine Gedanken zusammen. „John ist auch hier. Und Laeti und ihre Mutter."
„Herr Gott", hörte ich meinen Vater durch die Sprechanlage murmeln. Darauf folgte ein lautes Knacken und das Tor öffnete sich. Wir verloren keine Zeit, holten unsere Fahrzeuge und betraten das Gelände, ehe sich das Tor wieder laut hinter uns schloss. Gerade als wir ausstiegen beziehungsweise abstiegen hörten wir Geröchel. Hinter uns tapsten wie strohdoof zwei Infizierte gegen das verschlossene Tor und streckten ihre Arme nach uns aus. Wo kamen die auf einmal her?
Ich konnte nicht anders und steuerte geradewegs wieder auf den verschlossenen Zugang zu. Dabei ignorierte ich meinem Bruder, der meinen Namen rief, blieb einfach wenige Zentimeter vor den ausgestreckten Händen stehen. Hinter den Metallstangen fauchten mir hässliche, gräuliche und blutverschmierte Gesichter entgegen mit eklig gelblich-roten Zähnen. Die Farbe der Iriden war noch zu erkennen, aber äußerst schwer bei all dem Rot des Blutes, das denen aus den Augen lief. Auch die Hände waren rot vor altem Blut und stanken widerlich metallisch und nach Tod. Ich hatte absolut keine Ahnung, was mich dazu trieb, mich so nah an diese bestialischen Monster zu stellen und auch mein Herz dankte es mir nicht. Es hämmerte wild vor Angst gegen meine Brust. Wenn das hier eine Art Therapie sein sollte, dann schlug sie nicht an. Im Gegenteil, ich hatte eher das Gefühl, gleich umzufallen. Ich wusste auch nicht, wie ich es schaffte, meinen Golfschläger zu zücken und der Kreatur vor mir den Schädel einzuschlagen. Das musste der bloße Überlebensinstinkt sein, der selbst im größten Moment der Schwäche sich in reinster Konzentration zeigen konnte. Traurig nur, dass sich diese reinste Konzentration nur erfolgreich zeigte, wenn ich mich feige hinter einem metallischen Tor versteckte und mit meiner metallischen Waffe einen verlängerten Arm besaß. Feige... Ja, genau das war ich.
Als auch der zweite Infizierte endgültig tot war, kehrte ich zu meinen Weggenossen zurück. Sie warfen mir merkwürdige Blicke zu, die ich nicht deuten konnte und wollte. Ich bewegte mich schnurstracks auf die Tür zum Gebäude zu, welche durch einen Bewegungssensor sofort aufging. Nur hatte ich jetzt keine Ahnung, wo ich längs gehen musste.
Das war letztendlich auch irrelevant. Nur wenige Sekunden später hörte ich Schritte, die so schnell aufeinander folgten, dass diese Person rennen musste. Sie wurden immer lauter und wenige weitere Sekunden später erkannte ich meinen Vater, der auf uns zurannte. „Kyra!", rief er vor Erleichterung. Wahrscheinlich auch vor Trauer und Wut und allem anderen gleichzeitig, aber vor allem vor Erleichterung. Ich konnte nicht mehr an mich halten und flennte los, lief ihm entgegen und geradewegs in seine Arme. Fest wurde ich von seinen starken Armen umschlungen, sein Kopf lag auf meinem. Glücklich wie seit Wochen nicht mehr, ließ ich meinen Tränen an seiner Brust gelehnt freien Lauf, murmelte immer wieder „Papa" und „Es tut mir leid". Er streichelte über mein Haar, erwiderte immer nur „Ist schon okay". Das war es nicht, aber wir wussten beide, dass es anders nicht ging, emotional keine andere Möglichkeit offen stand, und dass es nun auch nicht mehr änderbar war. Ich wollte es auch nicht ändern. Auch wenn ich sowohl meinen Bruder, als auch meinen Vater mit meiner Entscheidung enttäuscht haben sollte, ich stand dazu und ich bereute es nicht. Denn nun waren wir wieder vereint. Nun würde bestimmt alles besser werden. Also... war irgendwie doch alles okay.
„John! Komm her, mein Sohn!", sagte mein Vater irgendwann, ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ich spürte, wie mein Vater nun neben mich, auch meinen Bruder so fest umarmte, wie es mit bloß zwei Armen nun mal möglich war. Mein Vater war wirklich kein Mann der Tränen. Nicht, weil er sie als schwach empfand, sondern weil er ein Mann, der nicht leicht zu erschüttern war. Doch dann konnte ich tatsächlich ein leises, verräterisches Schniefen vernehmen, dass aus dem Mund aus eben diesem Mann zu kommen schien.
„Papa", grinste ich, noch immer komplett unter Tränen und drückte mich etwas von ihm weg, damit ich in ansehen konnte. „Weinst du etwa?"
Seine Augen waren bereits ein bisschen rot, aber er bevorzugte es, nicht zu antworten. Er streichelte lediglich mit einem kleinen Lächeln sanft über meine Wange. Das hatte er früher immer gemacht, als ich noch ein Kind war. Oder traurig. Oder beides. Es beruhigte mich immer total und so auch jetzt. Meine Tränen versiegten. Und lösten uns langsam voneinander. Erst dann entdeckte beziehungsweise realisierte er, dass seine Kinder nicht allein gekommen waren.
„Patricia", hauchte mein Vater und trat langsam auf sie zu. Die Betonung ihres Namens war eine ganz andere, als die von meinem oder meines Bruders, aber in ihrer Bedeutung weder erfreuter, noch enttäuschter. Das war schwer zu beschreiben, aber ich verstand es sofort.
So wie uns eben nahm er nun auch die dunkelhaarige Frau und ihre Tochter in den Arm. Er stand mit dem Rücken zu mir, so konnte ich Patricia erkennen und wie glücklich sie darüber war, meinen Vater zu sehen. Auch Laeti umarmte ihn, als wäre er ihr Vater. Es war so ein schönes Bild. Es fühlte sich fast so an, als seien wir eine große, glückliche Familie. Eine große, glückliche Familie in Sicherheit und Geborgenheit. Das war fast zu schön, um wahr zu sein.
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Endless Death
FanfictionZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...