Ich saß noch eine Weile einfach so da, lange nachdem Svea wieder in der Schule verschwunden war. Der leichte, kühle Septemberwind durchfuhr sanft meine Haare, streifte hin und wieder meinen Nacken, wodurch ich erschauderte. Mein Blick war in den Himmel gerichtet - er war wolkenlos und nur so mit Sternen übersät. Der Vollmond prangerte inmitten all dieser hellen Punkte, als würde er über dieses Reich regieren. In einer Parallelwelt saßen bestimmt die Parallelwelt-Kyra zusammen mit ihrer Parallelwelt-Schwester auf dem Parallelwelt-Balkon der Älteren, umwickelt mit einer weichen, warmen Parallelwelt-Decke und studierten die Parallelwelt-Sternbilder oder betrachteten einfach nur den Parallelwelt-Mond.
Ich sah auf meine Uhr, durch das helle, von Mond reflektierte Licht konnte ich sie leicht lesen. Und mir fiel auf, das ich deutlich zu spät dran war. Aber das machte wohl nichts mehr. Ich war schließlich nicht diese Parallelwelt-Kyra, die im Gegensatz zu mir ihre Worte pünktlich der entsprechenden Person ausrichten konnte.
"Happy Birthday, Leonie..."
Ich richtete mich auf und ging in die Schule zurück. Ich sollte schlafen gehen, aber mochten gerade noch so viele Gefühle durch meinen Kopf fluten – Müdigkeit gehörte nicht dazu. Es war unmöglich, jetzt ins Bett zu gehen, ich würde nur da liegen und mich mit meinem Wach-sein quälen. Also konnte ich genauso gut weiter durch die Schule und das Gelände streifen, wie ich es auch schon vor meinem Zusammentreffen mit der Blondhaarigen getan hatte. Mit dem Unterschied, dass ich nun weder Spawner noch bei mir hatte, noch mit Pia reden konnte, die mir erzählte, wie sie unter anderem ihre Schwester gerettet hatten und in welchem Zustand sich teils ihre Wohnungen befanden. Nein, jetzt war das präsenteste Gefühl die Einsamkeit. Und ich mochte dieses Gefühl nicht.
Mich lotste etwas die Treppen der Schule hinauf. Wohin ich ging, wusste ich nicht, ich kannte mich in diesem Gebäude nicht aus. Ich war nur ein, zweimal hier gewesen und soweit ich wusste, nur am Tag der offenen Tür. War schließlich eine Privatschule hier, aber auch eine Privatschule wollte sicherlich hin und wieder damit prahlen, wie viel Geld sie doch besaß. Sollten sie nur. Ich war ohnehin nur wegen Rosa, Pia und Lysander dort, denen ich Gesellschaft leisten wollte - in der Umgebung, in der sie den Großteil ihres Tages verbrachten. Aus Freundschaft, aber besonders aus Neugier. Ich war neugierig darauf, zu erfahren, wie sich Schüler, die „nur" wegen eines Stipendiums auf dieser Schule waren – also wie Lysander beispielsweise – so schlugen und ob sich Unterschiede feststellen ließen zwischen diesen Schülern und denen, die mittels Geld dort waren – wie beispielsweise Pia. Ich kam zu dem gleichen Ergebnis, wie ich es bei nahezu jedem Vergleich tat; es gab sowohl Idioten auf der einen Seite, als auch auf der anderen, so wie es auch vorbildliche Menschen auf beiden Seiten gab. Lysander und Pia als beste Beispiele. Sie waren beide absolut großartige Menschen, ob nun mit oder ohne Stipendium.
Als ich das nächste Mal stehen blieb, befand mich im zweiten Stock. Es war, abgesehen vom Mondlicht, das durch die großen Fenster der Treppenhäuser schien, finster hier. Finster und still. Die Schlafräume befanden sich eine Etage unter mir, hier war also niemand. Jedenfalls niemand, der schlafen wollte. Das Echo meiner Schritte hallte von den Wänden wider, als ich den Flur entlangging. Dann fand ich ein neues Treppenhaus, das noch weiter nach oben führte. Da ich wusste, dass diese Schule eher in die Breite erbaut wurde, also nur zwei Stockwerke besaß, wusste ich, dass diese Treppen zum Dach führen mussten. Wie von selbst stiegen meine Füße auch diese Stufen hinauf. Die Tür war schwer, wie ich feststellte, als ich sie aufstemmte. Aber immerhin fiel sie nicht auch so wieder zurück ins Schloss, die automatische Bremsung verursachte nur einen dumpfen Knall. Aber dieser dumpfe Knall reichte aus, um eine Person, die einige Meter vor mir am Geländer stand, verwundert zu mir umdrehen zu lassen. Ihr Haar erstrahlte im Mondlicht wie flüssiges Silber.
„Lysander... Wieso überrascht es mich nicht, dich hier zu sehen?", fragte ich im sanften Ton, während ich mich auf ihn zubewegte. Ich konnte das leichte Lächeln auf seinen Lippen gerade noch so erahnen, doch antworten tat er erst, als ich bei ihm stand: „Wahrscheinlich, weil du mich einfach gut genug kennst."
„Hmm", brummte ich zustimmend und stützte mich mit den Armen auf das Geländer. „Dann müsste ich auch sagen können, was dich wachhält, wenn ich dich ja gut genug kenne."
Ich schaute mir den Mond an, dessen Krater ihm einen überrascht oder entsetzt dreinschauenden Blick verliehen, als gäbe es nichts anderes mehr auf dieser Welt. Dann drehte ich schwungvoll meinen Kopf zurück zu Lysander, was ihn erschrocken zusammenzucken ließ. „Du bist so überwältigt davon, deine beste Freundin wiederzusehen, dass du nicht mehr schlafen kannst!", behauptete ich und schenkte ihm ein merkwürdiges, schiefes Grinsen, das sich mehr als nur falsch auf meinen Lippen anfühlte. Genauso wie dieser schlechte Scherz. Dabei wollte ich nur die Laune etwas anheben, insbesondere meine. Mission failed.
Oder auch nicht, denn mein bester Freund lachte ein wundervolles, leises Lachen, als wäre ich wirklich witzig gewesen. Er lachte nie, nur um jemanden einen Gefallen zu tun, dafür war er schlichtweg zu ehrlich. Und das zu wissen, half mir ein wenig.
Der Silberhaarige seufzte und schaute nun seinerseits in den Himmel. „Wenn es nur das wäre...", murmelte er, bevor wir dann nur schweigend nebeneinander am Geländer standen und in eine Zukunft blickten, die es nicht gab. Vielleicht hatte es sie mal gegeben, aber nun nicht mehr. Vereinzelt waren mal Symptome von Infizierten auszumachen oder von Menschen, die sich gegen eben jede wehrten, doch ansonsten war die Nacht erschreckend, wenn auch trügerisch ruhig.
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Endless Death
FanfictionZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...