Kapitel 44 - Flüssigkeiten - Svea

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Konnte dieser Tag eigentlich noch schlimmer werden? Erst wurden wir von diesen schnellen Zombies überrascht und... verloren Peggy und nun das? Vor uns tat sich eine Absperrung auf, Betonwände, bestimmt fast zwei Meter hoch – und sie schienen noch ein paar Blocks weiter zu gehen. So eine massive Wand mitten auf einer Straße, der Anblick war befremdlich. Er kam mir aus dem Geschichtsunterricht erschreckend bekannt vor – und der Familiengeschichte meines Vaters.
„Der Anblick erinnert mich an die Berliner Mauer", Viola sprach aus, was mir auch in die Gedanken gekrochen war. Ich gab ein zustimmendes Geräusch von mir.
„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als hier entlang zu fahren und zu schauen, ob wir irgendwo durchkommen."
Niemand zweifelte Johns Entscheidung an. Zu unserer Überraschung war die Absperrung gar nicht so lang wie ich befürchtet hatte. Zehn Blocks vielleicht? Dafür war ihr Ende ein fürchterlicher Anblick. Ein Militärfahrzeug lag umgekippt auf der Seite, aber es war nicht mehr möglich ins Innere des Wagens zu schauen, die noch übrig gebliebenen Scheiben waren voller Blut... und anderen Körperflüssigkeiten wahrscheinlich. Das Auto war umkreist von auf einem Haufen Toten. Ehemalige Zombies vermutete ich, das Aussehen der Leichen sprach dafür. Nur noch löchrige, fahle Haut, gelbe, unvollständige Augen, Gedärme, abgetrennte Arme und Beine. Das sowieso schon flaue Gefühl in meinem leeren Magen wurde schlimmer. Ich schloss meine Augen und atmete langsam ein und aus, während ich versuchte, den Gestank der von den Körpern ausging zu ignorieren.
„Ich denke, wir sollten hier lieber schnell weg und aufs looten verzichten, was?", Armin stellte sich neben mich. Seinen Platz im Auto hatte er Carla überlassen, während ihn heute Vormittag Laeti hatte. Aber Carla war immer noch so am Boden zerstört, dass es so wirklich besser war. Alexy fuhr.
„Ja. Die Soldaten müssen in diese Traube gefahren, umgekippt und dann von verbliebenen Zombies überrannt worden sein. Anders kann ich es mir nicht erklären. Sie sind bestimmt noch in der Nähe, seid achtsam."
John brachte meine Befürchtung auf den Punkt. Die umgefahrenen Zombies werden die Soldaten nicht getötet haben, irgendwas sagte mir, dass es auch nicht einfach der Unfall war. Bloß weg hier.
„Hauen wir ab", Kim runzelte ihre Stirn.
Wir entfernten uns von der „Unfallstelle", aber meine Anspannung wuchs nur noch. Meine Nerven waren zum Reißen angespannt und es schmerzte regelrecht. Verbissen lauschte ich, mein Blick huschte immer wieder hin und her, ich beobachtete genau Flips Reaktionen, aber auch die von Demon, der noch immer bei Lysander an der Leine lief. Ich wäre in diesen unmenschlich langen Minuten nicht fähig gewesen zu sprechen. Adrenalin stritt sich in meinem Körper mit Todesangst um die Vormacht. Die sowieso noch viel zu frischen Erinnerungen vom Vormittag kamen hoch. Nicht noch jemanden sterben lassen, nicht noch jemanden, nichts übersehen, nichts übersehen, nichts – ich wünschte, dieses eine Detail hätte ich übersehen. Kinder. Ein Junge und ein Mädchen, sie in Thomas Alter, er in Devis, vermutete ich anhand der Körpergrößen, viel mehr konnte man nicht mehr erkennen. Geschwister wahrscheinlich. Sie lagen einfach so auf der Straße, mit den Gesichtern auf dem Boden, ihre Nacken und Rücken völlig zerfetzt. Ich war mir nicht mal sicher, ob der Kopf beim Kleinen noch am Körper befestigt war. Wobei ich mir nicht mal sicher sein konnte, dass es wirklich ein Junge war. Aber das war egal. So egal. In meinem Magen blubberte es sauer, ich unterdrückte einen Würgereiz. Zwei Details zerrissen mir das Herz. Die beiden hielten sich noch an den Händen und das jüngere Kind... hatte einen Stoffhasen in seiner anderen Hand, der uns nun aber völlig blutbesudelt aus seinen Knopfaugen ansah. Der Blick kam mir vorwurfsvoll und traurig vor.
Warum habt ihr uns nicht geholfen?"
Ich versuchte diesen Gedanken abzuschütteln. Wir hätten gar nichts machen können. Wie auch? Sie lagen da sicherlich schon ein paar Tage. Aber es gelang mir nicht, auch nicht, als wir uns weiter durch die Straßen bahnten.

Inzwischen waren wir in Mattapan angelangt, aber die Zerstörung blieb gleich. Boston war mal so eine schöne, vielseitige Stadt und nun glich sie einem Kriegsschauplatz aus einem Hollywood-Dystopiestreifen. Ich zog meinen Schal enger und zupfte am Reißverschluss meiner geschlossenen Lederjacke herum. Mein Magen knurrte und ich hatte ein Pappmaul, aber ich traute mich nicht, stehen zu bleiben um meine Wasserflasche aus meinem Rucksack zu holen.
„Hast du Durst?", Armin stand neben mir und grinste. Er hielt mir seine Wasserflasche hin.
Ich nickte, aber als ich nach der Flasche greifen wollte, zog er sie weg.
„Redest du nicht mehr mit mir?"
„Was?"
„Du sieht nicht gut aus, Mädchen", er hob eine Augenbraue.
„Ich weiß ja, dass du eher auf buntes Haar stehst, aber das ist gemein", ich musste sogar ehrlich schmunzeln.
„Du weißt genau, wie ich das meine."
Er starrte mich weiter an.
„Armin, ich muss mich konzentrieren", mir war nicht wohl dabei, meiner Umgebung nicht 100 Prozent meiner Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
„Ja, auf mich", seine Stimme war ungewohnt ernst, „Sie mich an!"
Ich seufzte und drehte mich zu ihm. Seine wunderschönen eisblauen Augen, noch blauer als meine eigenen, sahen mich ganz gegensätzlich zu ihrer Farbe an – warm.
„Du musst besser auf dich aufpassen, hörst du?", er drückte mir die Wasserflasche in die Hand, „Nath bringt mich dreimal um, wenn dir was passiert. Vio gleich mit und ich würds mir auch nie verzeihen."
„Ich pass doch auf", ich seufzte um meine Anspannung abzuschütteln, „Du hältst mich gerade davon ab."
„Ich rede nicht von den Gulaschfressen", er packte meine Schultern und wir stoppten.
War er bescheuert? Das war gefährlich! Mein Blut rauschte dank meines Herzrasens durch meinen Körper.
„Mensch, Svea, ich mein alles andere um uns herum! Du isst kaum, schläfst schlecht, trinkst zu wenig! Ich hab das Gefühl, du bist in diesen wenigen Tagen noch zierlicher geworden!"
„Quatsch!", ich schüttelte mich aus seinem Griff und ging weiter, er folgte mir auf Schritt und Tritt.
„Selbst wenn nicht, deine Augenringe und Blässe sind Beweis genug, dass es dir auch körperlich nicht gut geht."
„Armin!", er sollte damit aufhören!
Ich versuchte fokussiert zu bleiben, mich auf unser Ziel zu konzentrieren und er?
„Was?", er verengte seine Augen, „Ich weiß, du bist im Kopf mindestens 60 Prozent der Zeit bei Nath und machst dir Sorgen, aber wenn du vor Erschöpfung zusammenklappst und deswegen gefressen wirst, siehst du ihn nicht wieder! Er macht sich garantiert auch wahnsinnige Sorgen um dich, also tu ihm – und mir – den Gefallen und pass auf dich auf! Okay?"
Ich seufzte. Leider musste ich zugeben, dass er mit allem was er sagte recht hatte. Seine Aussagen waren vernünftig. Armins Aussagen waren vernünftig! Kapitulierend schraubte ich die Wasserflasche auf und setzte an. Plötzlich war die Flasche innerhalb von Sekunden leer.
„Scheiße, ich werde so pinkeln müssen."
Er lachte.
„Das ist nicht witzig, ich kann mich nicht einfach an eine Laterne stellen!", ich musste selbst grinsen.
„Hier", er gab mir etwas Zwieback. Ich stöhnte, dieses ganze trockene, haltbare Zeug konnte ich einfach nicht mehr sehen, aber Armin und meinem leeren Magen zuliebe aß ich. Während ich kaute, kramte Armin im Gehen in meinem Rucksack. Er reichte mir meine Flasche.
„Echt jetzt?", murmelte ich.
„Ja", er klopfte mir auf die Schulter und nahm mir seine leere Flasche ab. Ich trank meine fast leere Flasche aus – aber das wenigste davon hatte ich gestern getrunken und heute erst recht nicht. Armin stopfte die Literflasche wieder in meinen Rucksack und machte ihn zu.
„Zufrieden?", ich seufzte.
„Ja, schon besser so", er lächelte mir zu.
Armin beließ es fürs Erste bei diesem Bemuttern. Trotzdem warf er mir hin und wieder einen Blick zu.
Nach einer Weile bestätigte sich, was ich schon befürchtet hatte. Ich musste fürchterlich dringend mal auf die Toilette. Das war wieder einer der Momente, in denen ich die Jungs beneidete, die konnten sich einfach irgendwo hinstellen und den Reißverschluss öffnen.
„Wir müssen einen Abstecher machen", Isabella hatte das Fenster des Autos heruntergekurbelt, „Die Kinder müssen zur Toilette."
Ich seufzte.
„Was ist los?", Viola tauchte neben mir auf.
„Das Timing ist einfach perfekt, ich pinkle mir fast ein", ich schmunzelte.
Sie lachte leise und ich sah mich um. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich die Umgebung trotz der Zerstörung erkannte. Wir hatten die Route, die meine Eltern jahrelang zum Haus der Jacotts genutzt hatten, gekreuzt. Von hier aus kannte ich den Weg! Ich gab John ein Handzeichen und er wartete mit dem Losfahren, als ich zu ihm ans Fahrerfenster kam.
„Von hier kenne ich die Strecke und weiß wo eine Toilette ist."
„Zeig uns den Weg", er nickte. Ich joggte mit Flip schnell an die Spitze unserer Gruppe und ging los, die Autos fuhr kurz darauf langsam an.
Das Gefühl von Nutzen zu sein, tat mir gut. Den anderen den Weg zu zeigen erinnerte mich daran, dass ich eine Aufgabe hatte – und ein Ziel. Mein Körper wurde mit Glückshormonen überschwemmt, als ich daran dachte, vielleicht Nath wiederzusehen. Nicht einmal das „Vielleicht" trübte meine Gedanken.
Wir folgten der Straße geradeaus Richtung Süden, bevor wir bei einer Kreuzung nach links abbogen und dort einer kleinen Gruppen Zombies begegneten. Es waren allerdings nur fünf langsame Untote. Keiner dieser schnellen, deren Existenz mich noch immer beschäftigte. Wir waren an einem kleinen Platz, mit ein paar Bäumen und Parkbänken angekommen. Aber direkt daneben stand auch ein kleines Toilettenhäuschen. Ich atmete einmal tief ein.
„Ich schau rein, ob was drinnen ist."
„Ich begleite dich mit Demon", Lysanders Stimme ertönte hinter mir. Ich nickte.
Seit etwas mehr als zwei Jahren war diese öffentliche Toilette unisex und so mussten wir nur einen Toilettenraum durchkämmen. Wir lauschten. Es war still, irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Vorsichtig und langsam öffneten Lys und ich jede einzelne Kabinentür, die Hundeleinen nur lose in unseren Händen. Als ich die letzte Kabine für leer befunden hatte, nickte ich ihm zu.
„Du kannst die anderen reinlassen", ich zögerte, „Und ähm, würdest du Flip schon einmal mit raus nehmen?"
Er lächelte schwach.
„Natürlich."
„Danke, Lysander", ich drückte ihm die blaue Leine in die Hand.
„Sei brav", ich streichelte Flips über den Kopf.
„Dafür doch nicht", er nickte und verließ den Raum.
Sofort huschte ich in die erstbeste Kabine.
Schlussendlich gingen wir alle einmal zur Toilette, wenn wir schon die Chance dazu hatten. Bevor wir weiterfuhren, besprachen wir noch, ob es hier irgendwo gute Übernachtungsmöglichkeiten gäbe.
„Es gibt zwei Blocks weiter ein paar Einfamilienhäuser."
John akzeptierte meinen Vorschlag mit einem Nicken, aber Amber erhob das Wort.
„Ich will schnell nach Hause, wir sollten einfach weiter."
„Nachts ist es zu gefährlich. Mit Licht sind wir viel zu auffällig und ohne sehen wir nicht genug."
Isabelle schüttelte den Kopf.
„Außerdem werden wir wenn wir müde sind unkonzentriert. Das kann tödlich sein."
Lysanders ruhige Stimme schien sie ruhig zu stimmen und damit war das Gespräch beendet.
Wir fuhren weiter und fanden tatsächlich ein verlassenes, sicheres Einfamilienhäuschen, in dem wir uns einrichten konnten.

Ich saß auf dem fremden Wohnzimmerteppich, während ich Flip bürstete. Demon und ihn hatte ich bereits gefüttert, nun versuchte ich mich davon abzuhalten, wieder zu viel zu denken. Wenn ich schon denken musste, dann doch bitte wenigstens an etwas Erfreuliches. Unser Weg war nicht mehr lang. Morgen konnten wir es wirklich schaffen, in Hyde Park und bei den Jacotts anzukommen. Selbst wenn wir Umwege würden nehmen müssen sollten wir es eigentlich vor dem Einbruch der Dunkelheit schaffen. Dann blieb noch ein anderes Problem und das hieß Frank Jacott. Amber und wahrscheinlich auch Li würde er selbstverständlich hineinlassen, aber uns alle? ...Mich? Der Gedanke machte mir Angst. Auf jeden Fall musste er mein Gesicht so verhärtet haben, dass John mich ansprach.
„Stimmt etwas nicht, Svea?"
Etwas desorientiert sah ich mich um. Weder Amber noch Li waren hier, aber die meisten von uns „Erwachsenen", also denen über mindestens siebzehn. Von den jüngeren bildete nur Thomas eine Ausnahme, die Kinder schliefen im Nebenraum, Iris und Laeti waren bei ihnen.
„J-ja", oh, eigentlich wollte ich ganz anders antworten. Weniger ehrlich. Aber wenn ich schon mal dabei war.
„Mich beschäftigt eine Sache zu den Jacotts."
„Was ist mit ihnen?"
„Besonders Mr Jacott ist kein netter Mensch. Ganz im Gegenteil."
„Meinst du, er lässt uns vielleicht nicht rein?", Patricia sah mich aus großen Augen an.
Ich schloss kurz meine Augen. Ja, das meinte ich, aber brachte ich es übers Herz es ihnen zu sagen? Ich besann mich darauf, dass sie die Wahrheit verdienten.
„Nathaniel und sein Vater könnten sich nicht unähnlicher sein. Mr Jacott ist arrogant, snobig, herrisch und vor allem extrem cholerisch. Er fühlt sich unglaublich schnell provoziert und beleidigt. Es sich bei ihm zu verscherzen ist unglaublich einfach."
Ich wusste nicht, ob ich das „gewalttätig" erwähnen sollte.
„Ist Nathaniel deswegen schon minderjährig ausgezogen?", Kim sah mich mit ernstem Gesicht an.
Ich hatte das Gefühl, dass sie Verdacht schöpfte.
„Ist er das?", Isabelle sah verwundert aus.
Ich nickte.
„Mit sechzehn."
„Ohje", sie legte ihre Hand an die Wange.
„Ist Mr Jacott gewalttätig?", Johns Augen waren eiskalt.
Ich starrte zurück, sagte aber nichts. Hoffentlich sagte mein Blick genug.

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