Kapitel 18 - Ein Hauch von Normalität - Svea

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Ich saß mittig im Auto, endlich angeschnallt und nicht auf den schützenden Griff von Nathaniel angewiesen. Er saß nun links von mir am Fenster, rechts Flip und Demon. Ich streichelte meinen Husky, blickte dabei durch die Frontscheibe nach draußen. Castiel und die Braunhaarige - ich hatte ihren Namen wieder vergessen - fuhren auf ihren Motorrädern vor, dann kam deren SUV und unser PKW bildete das Schlusslicht. Wir waren alle still, jeder hörte nur den Fahrtwind durch das halb geöffnete Fenster auf der Seite der Hunde. Der Tag war wirklich wie im Flug vergangen, ich konnte nicht glauben, dass es schon dunkel wurde. Es kam mir vor, als wären wir erst vor zwei Stunden durch das Tor der Schule auf die bostoner Straßen gefahren. Hoffentlich kamen wir pünktlich bei der Schule an. Flip legte seinen Kopf auf meinem Knie ab und schloss die Augen. Ich war froh, ihn bei mir zu haben - gesund und nicht vollständig entsozialisiert.
„Wir sind gleich da", Leighs Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Hoffentlich geht es allen gut", Nath sprach meine Gedanken aus und ich nickte schwach. Um uns herum gingen vereinzelte Straßenlaternen an. Andere blieben dunkel, weil sie entweder von Autos umgefahren wurden oder wegen unvollendeter Baustellen nicht ans Stromnetz angeschlossen waren. So oder so, trotz allem wirkte der glühende Horizont, der an einen Glühdraht in einer alten Glühbirne erinnerte, beruhigend und vertraut. Er war von der Zombieapokalypse unbeeindruckt und immer noch wunderschön.
Wir waren fast da. Fast zurück in der sicheren Schule und hatten uns, wenn die Hunde mitgezählt wurden, mehr als verdoppelt. Aus fünf Personen wurden zehn mit zwei Hunden. Das war keine schlechte Bilanz. Trotzdem konnte ich es nicht erwarten, das Tor hinter uns zu schließen.

Es vergingen noch ein paar Minuten, bis wir die Schule erblickten. Drei wandelne Portionen Gammelfleisch kratzten am Tor, aber Cas und das Mädchen... ihr Name fing glaube ich mit K an, erledigten sie schnell. Zwei der vier Autotüren gingen auf. Lysander stieg aus. Nath auch und ich folgte ihm, um dann um das Auto herum zu laufen und die Hunde zu holen. Nachdem ich das gemacht hatte, nahm ich mein Handy aus der Tasche.
„Das Netz ist tot, das kannst du weglegen", das Mädchen mit K stand neben mir und sah mich an. Sie hatte zwei Leberflecke unter ihrem rechten, grünen Auge.
„Ich weiß, aber ich kann damit das Tor öffnen."
Wie auf Kommando tauchte jemand auf der Mauer auf. Kim. Sie grinste zu uns hinab.
„Ihr lebt ja noch! Und vermehrt habt ihr euch auch!"
Es war eine Erleichterung, sie zu sehen.
„Wenn alles frei ist, könnt ihr das Tor öffnen!"
Es war alles frei, also startete ich Armins App und richtete das Handy auf das Tor. Mit einem einzelnen Knopfdruck blinkte ein kleines Lämpchen am Tor auf und es fing an, sich zu öffnen. Leigh und der andere Typ ließen ihre Autos auf den Hof rollen, die Braunhaarige ging zurück zu ihrem Motorrad und fuhr es ebenfalls hinter das Tor. Ich nahm die Hunde mit und schloss es hinter uns. Wir öffneten die Kofferräume der Autos und begannen, alles nach drinnen zu tragen. Nur die persönlichen Dinge blieben erst einmal auf dem Hof. Armin kam nach draußen.
„Ihr habt euch ja noch schlimmer vermehrt, als wir!", er lachte - und wurde fast von Rosalia umgerannt, die weinend auf Leigh zustürmte.
Übrigens, tolle Begrüßung, Armin.
„Wer ist bei euch dazugekommen?", ich sah ihn an. Wie bisher alle trug er neue Kleidung.
„Iris' Mutter und Bruder mit zwei Kindern, die bei ihr in der Tagespflege waren", er war plötzlich leiser.
„Mehr nicht?", ich dachte dabei an seine Eltern oder von den anderen aus seiner Gruppe. Er schüttelte bloß den Kopf.
„Tut mir leid", ich fühlte mich mies, so in der Wunde gestochert zu haben. Er schüttelte abtuend mit dem Kopf.
„Wir grillen auf dem Hinterhof", Armin wandte sich ab, drehte seinen Kopf aber dann noch ein Stück zu mir, "Ich bin froh, dass ihr heil zurück seid."
Ich nickte.
„Bin ich bei euch genauso."
Nath kam gerade mit Gepäck beladen zu mir.
„Soll ich dir was abnehmen?", ich sah ihn an. Er schüttelte den Kopf.
„Geht schon, aber du könntest die persönlichen Sachen schon einmal hoch bringen."
„Klar."
Er verschwand nach drinnen und ich ließ Flip und Demon herumtollen, während ich in mehreren Läufen die Taschen in die Schlafräume brachte. Als ich damit fertig war, hatte jemand die Hunde auf den Hinterhof gebracht, wo sie nun gemütlich herumlagen. Devi spielte mit den Kindern, die aus der Tagespflege von Iris' Mutter waren und Pia unterhielt sich mit der rothaarigen Frau. Nath und Armin hockten beieinander und unterhielten sich angeregt. Kentin und der neue Typ aus der anderen Gruppe kümmerten sich um die Kohle des Grills und Castiel und Lysander holten Tische. Viola und Iris stellten Gartenlaternen auf, während Melody und Kim Stühle holten. Die Atmosphäre war... beinahe normal.
Rosalia klebte förmlich an Leigh, Alexy hüpfte von Grüppchen zu Grüppchen... es war unwirklich.
Das K-Mädchen und das weitere mit blauen Haaren saßen im kümmerlichen Gras. Dabei hatte die Braunhaarige eine Ratte auf der Hand. Der ebenfalls neue Typ, der der Motorradfahrerin recht ähnlich sah - war wahrscheinlich ihr Bruder - ging zu ihr hinüber und sagte ihr irgendwas, woraufhin sie ihrer Freundin die Ratte gab und aufstand. Sie kam zu mir hinüber und sah mich erst einmal an.
„Wir sollen Fleisch aus den Vorräten holen. Der Grill ist gleich fertig."
Ich nickte bloß und folgte ihr. Es war still zwischen uns und wir sprachen auch nicht, als wir das Fleisch aus dem Kühllager nahmen. Auf dem Weg zurück liefen uns die fehlenden Personen über den Weg. Amber... irgendwie war ich erleichtert, sie zu sehen, wenn auch wohl eher für Nath. Sie beachtete uns nicht und stampfte wortlos an uns vorbei. Li folgte ihr mit hocherhobener Nase. Ein Stück hinter ihnen ging eine Frau, die mit den Neuen dazukam. Vielleicht die Mutter von der Blauhaarigen. Sie sah ihr ziemlich ähnlich und war anscheinend duschen. Ihr Haar war feucht. Sie lächelte uns an.
„Hallo, ihr zwei. Soll ich euch etwas abnehmen?"
„Geht schon, Patricia", meine Begleitung wollte ablehnen, aber die Erwachsene überging das und nahm uns beiden etwas ab. Ich dankte ihr und wir gingen zurück auf den Hinterhof, brachten den Jungs am Grill das Fleisch. Ich sprach mich noch kurz mit Castiel ab, wann wir die Hunde füttern sollten und ging dann zu Nath. Ich setzte mich zu ihm und spürte sofort seine warme Hand im Nacken. Wortlos lehnte ich mich an die Stuhllehne. Insgeheim genoss ich die Wärme, die von ihm ausging sehr, sagte aber nichts.
„Hast du auch solchen Hunger?", er lächelte mich an. Ich schmunzelte.
„Und wie!"
Mein Magen knurrte, was wir ignorierten, weil Flip ankam und seinen Kopf auf meinem Schoß legte. Ich kraulte ihn schmunzelnd und beobachtete die letzten Lichtreflektionen in seinem Fell, während ich mit Nath sprach.
„War Amber bei dir?", ich sah ihn mit ernstem Blick an. Wenn seine eigene Zwillingsschwester sich nach so einem Tag nicht bei ihm gemeldet hätte, wäre das wirklich traurig. Dann wäre Amber wirklich noch tiefer gesunken. Aber mein bester Freund mit den bernsteinfarbenen Augen nickte.
„Wenn auch nur kurz."
Immerhin besser, als nichts.
Es dauerte noch einige Minuten, bis der Geruch von Fleisch in der Luft lag und wir das Essen verteilten. Es war wahrscheinlich unvernünftig, so viel Essen zu verbrauchen, aber für unsere Moral war das Gold wert. Dieses normale Essverhalten, das wir gewohnt waren, Fleisch und Softgetränke, nicht nur Müsliriegel wie die letzten Tage. Es war befreiend und ich war mir sicher, die anderen genossen es mindestens genauso wie ich. Flip lag bei meinen Füßen und schlief seelenruhig. Demon und er würden nach dem Essen eventuell anfallende Reste bekommen. Die gemeinschaftliche Mahlzeit zog sich bis in die Dunkelheit der Nacht, bis sich alle nach und nach verteilten oder schlafen gingen. Ich fütterte mit Castiel noch die beiden Rüden und ging dann auch in den Schlafraum der Mädchen, in dem noch einige Schlaflager frei waren, während andere schon seelenruhig schliefen. Ich legte mich ebenfalls hin mit der Absicht, den Tag für mich zu beenden, aber ich fand keine Ruhe. Nach und nach kamen die letzten Mädchen ins Zimmer und es war still im Raum. Aber mir schwirrten so viele Erinnerungen des heutigen Tages im Kopf umher, dass ich nicht zur Ruhe kam.

Leise stand ich von meinem Lager auf und schlüpfte in meine Schuhe, verließ den Raum leise und ging. Ich streifte durch die Schule, aber ich verspürte das Bedürfnis nach frischer Luft. Also ging ich nach draußen und fröstelte beim ersten Windstoß, der meine Haut streifte. In der Nacht konnte es wirklich kühl werden. Besonders, wenn die Kleidung nur aus einer Hotpants und einem übergroßen T-Shirt bestand. Es dauerte einige Zeit in der ungewöhnlich stillen Nacht, einer Phase ohne Schüsse, bis ich verstand, was mich vom Schlafen abhielt. Die Gesichter. Die blutverschmierten, ausgemergelten Gesichter der Zombies. Pias Mutter. Die blutigen Wunden, die heraushängenden Gedärme... erst in dem Augenblick realisierte ich wirklich, was heute passiert war. Ich hatte Karate zum Töten benutzt. Auch wenn sie bereits tot waren, irgendwie. Das ganze Blut, die Gedärme, offene Wunden, gelbe, faule Zähne, blutunterlaufene, gelbe, halb zerplatzte Augen, die Realität stieg so plötzlich in mir hoch wie mein Mageninhalt, der sich sauer und ohne Vorwarnung wieder nach außen stülpte.
Ich hockte zitternd wie Espenlaub vor meinem halbverdauten Essen und starrte es an, ohne es wirklich zu sehen. Die Nacht war plötzlich erschreckend kalt und nicht länger entspannend, sondern grausam still. Ich saß noch einige Zeit dort an Ort und Stelle. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, waren aber eigentlich sicher nicht mehr als wenige Minuten. Langsam stand ich auf, wischte mir die Reste meines Mageninhalts von den Lippen und spuckte einmal Speichel, in der Hoffnung, den sauren, aggressiven, widerlichen Geschmack aus Mund und Hals zu bekommen. Vergebens. Ich beschloss, mich zurück in den Schlafraum zu begeben und ging ein Stück. Mein Gang kam mir wackelig vor und ich fühlte mich miserabel. Ich war damit beschäftigt, nicht in Schlangenlinien zu laufen.
„Alles okay bei dir?"
Die Stimme war mir nicht vertraut, aber auch nicht vollkommen fremd. Ich drehte meinen Kopf leicht in die entsprechende Richtung.
„Du...?"
Das K-Mädchen. Was machte sie hier? Und in ihrer vollständigen Kleidung? War sie noch nicht im Bett?
„Möchtest du dich setzen? Du bist kreidebleich", sie ließ mich nicht aus den Augen. Ich zögerte, nickte dann aber. Wir setzten uns nebeneinander ins Gras und schwiegen kurz.
„Es bringt nichts zu sagen, dass es mir gut geht, oder?", meine Stimne klang kratzig.
„Nicht wirklich."
„Wie war dein Name noch gleich? Fängt mit K an, oder?", ich sah sie genau an, um ihre Reaktionen mitzubekommen. Sie schaute mir ebenfalls ins Gesicht.
„Ich heiße Kyra", sie wirkte etwas abwesend, „und du?"
„Svea."
„Schön, dich kennen zu lernen, Svea", sie hatte etwas Beruhigendes an sich. Ich nickte.
„Ebenso."
„Darf ich fragen, was mit dir los war?", Kyra lehnte sich leicht vor und ihr braunes Haar fiel ihr über die Schulter.
„Mir ist bloß die Tragweite des ganzen Tages bewusst geworden. Dabei haben andere Schlimmeres durchgemacht heute", ich ließ meine Arme baumeln.
„Das heißt doch nicht, dass du dich nicht schlecht fühlen darfst. Es gibt immer jemanden, dem es schlechter geht", sie blinzelte ein paar Mal hintereinander, „dann dürfte sich niemand schlecht fühlen."
„Hmhm...", ich starrte zu Boden.
„Es ist für uns alle nicht leicht. Aber in dieser großen Gruppe sind wir wenigstens nicht allein mit unseren Gefühlen und Ängsten", sie blickte gedankenverloren in den Himmel.
„Wohl wahr", mein Mundwinkel hob sich minimal.
„Woher kommst du?", sie sah mich an.
„Hm?"
„Du hast einen leichten Akzent und dein Name ist nicht wirklich gewöhnlich."
„Achso. Ja... meine Eltern kommen ursprünglich aus Deutschland und Schweden. Aber ich bin in Deutschland geboren und dort bis fünf aufgewachsen.", ich spielte mit dem Gras neben mir.
„Meine Mutter kam auch aus Deutschland."
„Kam?", ich sah sie mit gerunzelter Stirn an.
„Sie ist schon seit ein paar Jahren tot", sie spielte an ihrem Schuh.
„Das tut mir leid...", ich sah sie bedauernd an.
„Muss es nicht. Sie muss so wenigstens nicht das hier miterleben."
Wir redeten noch ein paar Minuten darüber, wie unwirklich das alles war und wie weit entfernt sich das normale Leben anfühlte, bis ich mich dabei erwischte, wie ich immer mehr gähnte und mir die Augen zu fielen.
„Ich werde wohl jetzt schlafen gehen. Danke für deine Geduld, Kyra", ich stand langsam auf und klopfte mir die Beine ab.
„Nicht dafür", sie blieb sitzen, „Gute Nacht."
„Dir auch", ich schmunzelte, „Mal sehen, wie die Welt morgen aussieht."
Als ich kurz darauf in den Mädchenschlafraum zurückkehrte und mich in mein Lager legte, fand ich mit einem Mal ohne Probleme Schlaf.

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Credits to @Nastalia (on FF.de) :'D

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt