Lust- und ahnungslos wandelte ich durch die Schule. Flip hatte ich bei Nathaniel gelassen und nun wusste ich nicht, wohin mit mir. Die Verachtung von Melody und Amber lastete immer noch auf mir, aber ich hielt Nathaniels Nähe nicht mehr aus. Queen Jealousy und Drama Queen würden mir nur wieder etwas daraus zusammenschustern, was sie mir dann vorwerfen konnten. Ich hatte ihn zwei Sekunden zu lange angeguckt oder so etwas. Meine Augen brannten, als würde jemand unter meiner Nase Zwiebeln schneiden. Kopfschmerzen kündigten sich auch an.
„Oh hallo!", erklang eine fröhliche Stimme.
Ich hob erschrocken den Kopf und blickte in das Gesicht von Iris' Mutter. Sie war noch gleich ihr Name? Isabella? Nein, nichts spanisches... Isabelle?
„Oh hi", ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln.
„Ich glaub, ich sollte mich noch einmal vorstellen. Ich bin Isabelle", sie strahlte ausgelassen. Beneidenswert – davon war ich gerade meilenweit entfernt.
„Svea", ich nickte ihr zu.
„Könntest du mir einen Gefallen tun, Svea?", sie kam direkt zur Sache. Gefiel mir. Die Menschen redeten mir oft viel zu sehr um den heißen Brei.
„Kommt drauf an, worum geht es?"
„Ich möchte unten beim Vorbereiten des Mittagessens helfen, aber die Kleinen brauchen jemanden, der ihnen ihre Geschichte zum Einschlafen vorliest. Würdest du das übernehmen?", sie lächelte.
Plötzlich kam es mir eher so vor, als würde sie mich dem Tod ausliefern. Ich und Kinder? Andererseits... was hatte ich zu verlieren? Melody und Amber konnten mir da ja absolut nichts. Ich sollte aufhören ständig daran zu denken.
„Ich kann es gerne versuchen."
„Danke dir! Sie sind bereits im Damenschlafraum. Das Buch ist auch bei ihnen", sie zeigte mir noch einmal ihr Zahnpastagrinsen und ging dann.
Ich machte mich auf den Weg zu dem Schlafraum. Die drei Kinder, von denen ich nur Devi kannte, spielten alle mit ihren wenigen Spielsachen, als ich in das Zimmer kam.
„Hallo, Svea!", Devi sah mich als erste und grinste.
„Hallo, Devi", ich lächelte schwach.
„Was machst du hier?"
„Isabelle hat mich gebeten, euch vor eurem Mittagsschlaf vorzulesen", ich erblickte das Buch auf der Fensterbank – Harry Potter und der Stein der Weisen.
„Du hast so eine angenehme Stimme", das zweite Mädchen lächelte schüchtern.
„Danke", ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, das gefror, als der Junge mit blonden Locken maulte.
„Nicht schon wieder dieses dumme Buch!"
„Das ist nicht doof, Josh! Oder Sarah?", Devi sah ihre Freundin nach Unterstützung suchend an. Das schwarzhaarige Mädchen schüttelte schwach den Kopf.
„Ich mag es."
„Ihr mögt ALLES, ihr Heulsusen!", der Junge streckte den Mädchen die Zunge entgegen.
„Ey, lass das Josh! Du bist immer so gemein!", Devi sah ihn tadelnd an.
Die beiden stritten über wenige Sätze weiter. Sarah weinte fast und mir wurde klar, dass ich sie das nicht alleine klären lassen konnte.
„Es reicht ihr beiden!", ich sah sie streng an, „Es ist nichts Schlimmes daran, zu weinen und Sachen zu mögen und nicht jeder mag das gleiche. Das ist völlig okay. Aber geht gut mit den Gefühlen anderer um!"
Ich setzte mich zu den Dreien.
„Josh, du kannst entweder zuhören oder du schläfst alleine im Jungsraum. Das möchtest du doch bestimmt nicht, oder?"
„D-das macht mir nichts!", er verschränkte die Arme.
Seine Röte im Gesicht und die Tatsache, dass er mir nicht ins Gesicht blicken konnte, sagte etwas anderes. Sein Verhalten kam mir so bekannt vor. Ich fing an, zu grinsen. Nathaniel war genauso, als ich damals zu ihm in die Vorschule kam und wir in dem gleichen Alter waren.
„Das glaube ich dir nicht, Josh. Ich mach dir einen Vorschlag: Entweder ich lese euch weiter aus eurem Buch vor oder ich lese aus meinem vor, das aber auf Deutsch ist. Ich könnte es euch übersetzen", ich lächelte, „Wenn Sarah und Devi einverstanden sind, natürlich."
„Was ist denn dein Buch?", Sarah sah mich an.
„Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Der zweite Teil von den sieben", ich grinste.
„Lesen alle denn nur diesen Harry?", Josh seufzte.
„Die Bücher sind sehr beliebt und haben eine schöne Moral", ich lächelte, „Es zeigt immer wieder, dass Liebe und Freundschaft die wichtigsten Dinge sind, die wir haben. Erst recht in schweren Zeiten."
„Oh", plötzlich wurde Josh still.
Hatte ich ihn überzeugt? So ähnlich hatte eine sehr liebe Erzieherin immer Nath gebändigt.
„Also?", ich schmunzelte ihn an.
„Lies uns ruhig aus dem ersten Buch vor. Das ist ja noch nicht zu Ende", sein Gesicht war tiefrot und er murmelte.
„In Ordnung, legt euch hin, ihr drei," ein Lächeln wanderte auf mein Gesicht.
Ich klappte das Buch bei dem Lesezeichen auf und verschaffte mir kurz einen Überblick darüber, an welcher Stelle sie waren. Als ich meinen Kopf hob, lagen alle drei unter ihren Decken und sahen mich erwartend an. Auch der kleine Bad Boy.
Dann begann ich zu lesen. Die drei Kinder schlossen schnell ihre Augen und lauschten den Worten. Ich gab mir Mühe, möglichst jedem eine eigene Stimme zu geben und freundlich zu klingen. Zumindest in meinen eigenen Ohren klang ich sonst nämlich ziemlich kalt. Nicht nur die Kinder entspannten sich schnell, auch ich kam zur Ruhe. Melody und Amber konnten mir am Allerwertesten vorbeigehen – ich hatte Freunde, die zu mir standen. Nathaniel und die anderen waren doch da. Worüber machte ich mir Sorgen? Zombies oder Muggelhasser, solange wir Freunde hatten und zusammenhielten, war die Hoffnung nicht verloren.
Ich legte leise das Lesezeichen zwischen die Seiten und schloss das Buch, als ich mir sicher war, dass die Kinder schliefen. Sie alle hatten sich zusammengezogen und umklammerten schmusend ihre Decken und Kissen. Die drei waren schon niedlich. Sie hatten es von uns allen wahrscheinlich am Schwersten. Auf unseren Schutz angewiesen, ohne richtiges Verständnis, was denn nun wirklich los war auf der Welt. Sie waren so unschuldig und mussten so viel überstehen. Wir mussten sie beschützen. Noch mehr als wir alle standen sie gerade einmal am Anfang ihres Lebens. Vorsichtig und darauf bedacht, sie nicht zu wecken, strich ich jedem von ihnen einmal über den Kopf und legte das Buch weg, bevor ich den Raum verließ.
DU LIEST GERADE
Endless Death
FanfictionZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...