Kapitel 35 - Ein- und Zweisamkeit - Kyra

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Auch das hier bissl zu spät, he he he ^^'

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Es dauerte eine Weile, bis meine Tränen versiegten, wie lang genau, konnte ich allerdings nicht sagen. Ich wusste nur, dass ich praktisch alles beweinte. Kaum war ich fertig damit, zu einer Sache zu trauern, schon schoss die nächste in meinen Kopf. Angefangen mit der Realisierung, dass ich allein war. Ich hasse es, allein zu sein, das fiel mir in dieser Situation wieder besonders auf, doch war das noch der Heulgrund, mit dem ich am besten zurecht kam. Denn der nächste Gedanke galt Spawner. Spawner, meine geliebte Ratte, die ich in der Schule zurücklassen musste und nicht einmal dorthin zurückkehren konnte, weil das Militär gerade das wahrscheinlich erwartete. Ich weinte, weil ich mir sicher war, dass Spawner sterben würde, langsam und qualvoll und ich nichts dagegen tun konnte.
   Dann weinte ich, weil ich an Castiel und Nathaniel dachte, die nun wie ich irgendwo allein waren, nicht wussten, wie sie sich den anderen wieder anschließen sollten. Oder schlimmstenfalls nicht mal darüber nachdenken mussten, weil sie tot waren. Erschossen wie Vieh am Seitenstreifen, als Nahrungsquelle für Fliegen, Käfer, Larven und Untote dienend.
   Kaum hatte ich diesen Gedanken dank naiver Hoffnung verdrängt, vergoss ich Tränen, weil ich an Sveas überraschend ausgeprägte Selbstlosigkeit und Aufopferungsbereitschaft dachte und an Lysanders beschützerische, doch erzwungene Gewaltbereitschaft, dessen Anblick allein mir schon das Herz zerrissen hatte. Erneut fragte ich mich, warum (wahrscheinlich) so friedfertige Menschen nur zu so etwas Furchtbarem genötigt werden konnten.
   Nachdem ich mir mühevoll eingeredet hatte, dass sie für ihr Überleben keine andere Wahl hatten, dass es das Beste war in dieser fürchterlichen Situation, schweiften meine Gedanken wieder ab. Dieses Mal landeten sie bei John. John... Das furchtbar schlechte Gewissen, welches ich bekam, stand mir eigentlich nicht einmal zu. Ich hätte es besser wissen müssen. Es war meine Schuld. Ich war ekelhaft zu meinem eigenen Bruder. Meinem einzigen Bruder. Meinem geliebten Bruder. Meiner letzten Familie... Warum machte ich nur so einen Scheiß? Im Grunde meines Herzen wusste ich doch schließlich, dass er keine Wahl gehabt hatte, wusste es vom ersten Moment an, und doch war ich so schwachsinnig, so unheimlich dämlich, meinen angestauten Frust an ihm auszulassen. Diesen indirekten Vorwurf gegen meinen besten Freund; John hatte sogar gemeint, dass er eigentlich wüsste, dass seine Sorgen unbegründet seien, den Vorwurf hatte er nur deswegen gemacht, weil seine Sorge, seine Liebe für mich schlichtweg größer war, immer größer sein würde, als selbst das Vertrauen, dass er seinen engsten Vertrauen entgegen brachte. Und die Sache mit unserem Vater... Papa war zum Tode verurteilt, schon direkt nachdem er sich bei diesem unglücklichen Sturz so schwer verletzt hatte. John wusste das. Patricia wusste das. Laeti wusste das. Papa erst recht. Und ich wusste das auch, ich wusste es nur zu gut und ich wollte es alles andere als wahrhaben. John war derjenige, der einen vergleichsweise kühlen Kopf bewahrt hatte. Es war nicht seine Absicht, Papa zu töten, nein, völlig im Gegenteil. Er wollte ihn retten. Ihn erlösen. Dieser scheiß Virus war ansteckend und wir hatten bereits erkannt, dass diese Viecher nur zu töten waren, wenn das Gehirn zerstört wurde. Genauso wie das Gammelfleisch aus diesen ganzen Mistfilmen und -serien, da stellten sie wohl absolut keine Ausnahme dar.
   Trotz allem... war ich abartig zu ihm. Erst wenige Tage zuvor, kurz nachdem er mich erwischt hatte, wie ich abhauen wollte, hatte ich realisiert, wie wichtig es war, zusammenzuhalten, dass nichts zwischen uns stehen sollte, wie sehr wir uns gegenseitig brauchten oder zumindest ich ihn, doch... scheinbar hatte ich das schon wenige Tage später vergessen. Ritsche ratsche, raus aus meinem Kopf. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich war widerwärtig. Eklig. Einfach nur unheimlich dumm. Es tat mir leid, John. John. Hoffentlich ging es dir gut, es tat mir so leid.

Wie gesagt, irgendwann weinte ich nicht mehr. Irgendwann war mein Kopf leer. Als wäre ein Sturm durch meinen Kopf gezogen und hätte alles mit sich gerissen. Wie ein Zombie saß ich da auf diesem fremden Sofa und starrte bloß meine Knie an, ohne sie wirklich anzuschauen. Mir war nicht bewusst, dass man tatsächlich an rein gar nichts denken konnte bis zu jenem Moment. Ein paar Sekunden später jedoch schüttelte ich meinen Kopf, zwang mich in die Realität zurück. Mein Kopf pulsierte dabei protestierend und erst jetzt bemerkte ich die Kopfschmerzen, die wahrscheinlich wegen dem ganzen Weinen entstanden waren. Vielleicht auch wegen dem Stress, vielleicht auch wegen der schmerzenden Gedanken, vielleicht auch wegen allem. Das war ganz egal.
   Ich stand auf und versuchte möglichst meine Schmerzen zu ignorieren, begab mich auf die Suche nach einer Pinzette oder Vergleichbarem. Meine Hände wühlten sich durch verschiedenste Schubladen und Schränke, stellten schon mal Hochprozentigen und einen Holzlöffel zur Seite. Als ich im Erdgeschoss mit dem Rest nicht fündig wurde, stieg ich erneut die Treppen hinauf, durchsuchte Bad und die anderen Räume. Am Ende hatte ich dann doch alles gefunden, was ich würde brauchen und hoffentlich auch nützlich war. Mit all diesen Utensilien stand ich nun oben in die Badewanne, auf den Rändern neben mir abgesehen vom klaren Alkohol und dem Löffel nun auch Verbände, Tücher, ein Schal, eine kleine Tube Desinfektionsmittel und eine Pinzette ausgebreitet. Gut, Kyra, du hattest das schon in dem einen oder anderen Film gesehen, so schwer konnte das nicht sein.
   Vorsichtig stieg ich aus meiner kaputten Hose. Es ziepte etwas, weil das Blut bereits halb an der Hose angetrocknet war, kurz danach hatte ich es dann aber geschafft und warf sie über den Badewannenrand auf den Boden, bevor ich mich hinsetzte. Ich nahm den Schal, band ihn kräftig um meinen Oberschenkel und dann den Spiritus, um etwas davon in den Abguss zu schütten und diesen Anteil durch normales Wasser zu ersetzen. Das war ein Verfahren, welches ich nicht aus Filmen, sondern aus Neugierde von meinem Hausarzt erfahren hatte. Ich wünschte, ich könnte mich jetzt dafür bei ihm bedanken. Dann griff ich nach dem Duschkopf und lies das Wasser laufen, bis es lauwarm war, ehe ich es auf mein Bein richtete. Es tat weniger weh, als ich erwartet hatte, aber ich sollte mich nicht zu früh freuen. Also wusch ich mit zimperlichen Handgriffen das halb getrocknete Blut von der Wunde, ignorierte, dass noch immer welches aus dieser sickerte und trocknete dann mein Bein halbherzig ab. Danach wusch ich kurz die Pinzette, desinfizierte sie mit der entsprechenden Flüssigkeit und schob mir den Holzlöffel zwischen die Zähne.
   Ganz ruhig, Kyra...
   Einatmen.
   Ausatmen.
   Schnell schüttete ich das Alkoholgemisch über meine Schusswunde. „Hnnnnngghhhggg!", zischte ich ins Holz, krümmte mich unter Schmerzen.
   Einatmen.
   Ausatmen.
   Weiter machen, Kyra.
   Mit zittriger Hand griff ich nach der Pinzette, führte sie an das leicht pochende Einschussloch. Die Blutung war kaum noch vorhanden, mein Bein dafür aber mittlerweile auch ziemlich blass. Ich sollte nicht zu viel Zeit vergeuden.
   Einatmen...
   Ausatmen...
   Langsam steckte ich das kleine Werkzeug in meine Wunde, suchte verkrampft nach der Patrone. Es tat weh, es schmerzte höllisch und gequält biss ich immer tiefer in den Holzlöffel. Es tat so weh. Wo war diese scheiß Patrone?!
   Du hast diesen Schmerz verdient.
   Tränen bahnten sich ihren Weg in meine Augen, vor innerem und äußerem Schmerz war ich gezwungen, inne zu halten. Fest kniff ich die Augen zusammen. Es tat so weh...
   Kyra...
   Diese Stimme... Leicht öffnete ich wieder meine Augen. Das war eine andere Stimme. John?
   Einatmen. Ausatmen. Weitermachen. Nicht aufgeben.
   Ich tat, wozu mich diese Stimme anwies. Atmete ein, atmete aus, machte weiter, bohrte in meiner Wunde herum, gab nicht auf. Und dann... nach unbestimmbaren, schmerzvollen Sekunden hatte ich dann tatsächlich das Projektil zwischen den Zangen. Nochmal kräftig auf das Holz beißend, zog ich den Fremdkörper aus meinem Fleisch heraus, warf sowohl Kugel als auch Pinzette durch den ganzen Raum, als ich es endlich geschafft hatte - wohl aus Frust und Freunde zugleich. Zur Sicherheit schüttete ich nochmal etwas Alkoholgemisch auf die Wunde, zischte und griff dann nach einem sauberen Tuch, um so viel wie möglich zu trocknen. Nur noch zwei Schritte, meinte ich erleichtert zu mir selbst und nahm eines der Verbände zur Hand. Ich wünschte, ich hätte genug Mumm, meine Wunde auch noch zu vernähen, aber das konnte ich wirklich nicht, schon das Herumstochern war beinahe zu viel gewesen. Das Beste, was ich jetzt noch tun konnte, war, meine Verletzung bestmöglich zu verbinden, also tat ich das. Dabei dankte ich dem achtstündigen Erste-Hilfe-Kurs, den ich für meinen Führerschein absolvieren musste.
   Erst nachdem ich auch damit fertig war, konnte ich den letzten Schritt einleiten und langsam den Schal lösen. Auf eine unerklärliche Weise hatte ich Angst, mein Blut würde wie ein Springbrunnen aus der Schusswunde sprudeln, weshalb ich mir enorm viel Zeit ließ, den Schal aufzuknoten. Vielleicht kam mir es auch nur enorm lange vor. Was wusste ich schon?
   Schlussendlich lag ich da, rührte mich nicht mehr, lehnte mich einfach mit geschlossenen Augen gegen den Badewannenrand. Ich schwitzte, mein Bein pochte ein wenig und die Kälte des Keramiks drang nach und nach durch meine Haut, aber... es störte mich nicht sonderlich. Nein, ich fühlte mich vielmehr erleichtert. War das absurd? Ich hatte nichts mehr, hatte alles verloren und ich war erleichtert? In dem einen Moment heulte ich gefühlt mehrere Stunden wegen Einsamkeit, wegen Trauer, wegen Angst und schon im nächsten Moment war ich erleichtert? Ich stieß ein unglaubwürdiges Kichern aus.
   Nach einigen Minuten raffte ich mich dann doch auf und verließ das Bad, halbnackt. Ich wollte die kaputte, blutgetränkte Hose nicht wieder anziehen, wollte es nie mehr. Hoffentlich würde meine Blutung nun so weit gestillt werden, dass sie nicht den Verband durchdrang. An den Schmerzen hatte sich jedenfalls kaum etwas verändert. Solange ich so eingeschränkt war, konnte ich auch direkt jeden Gedanken, hier weg zu gehen, in den Wind schießen. Und damit auch den Gedanken, die anderen suchen zu gehen, obwohl ich ohnehin nicht einmal gewusst hätte, wo ich hätte anfangen sollen. Der Vorteil daran war nur, dass ich so nicht sterben konnte - zumindest nahm ich das an. Himmel, ich wollte hier nicht tagelang gefangen sein!
   Im Erdgeschoss angekommen drang mir ein Mauz-Geräusch in die Ohren. Irritiert schaute ich mich um, wo kam das denn bitte auf einmal her? Je weiter ich in den Wohnbereich hineinging und mich damit dem Hintereingang beziehungsweise -ausgang näherte desto lauter und deutlicher wurde das Geräusch. „Was zum...?"
   Da saß eine Katze – eine große Katze! - direkt vor der Tür, sah mich mit riesigen Augen an und mauzte weiter. Gehörte die hier her? War das ihr Zuhause? Das würde die Pfotenabdrücke und die nur angelehnte Tür erklären, als ich ankam. Nun war sie natürlich zu und die Katze kam hier nicht eigenhändig rein, weil es anscheinend keine Katzenklappe gab.
   Langsam, um sie nicht zu verschrecken, schlich ich mich zur Tür und machte sie auf. Augenblicklich schoss das Tier dicht an mir vorbei in die Stube. Unschlüssig blieb ich einige Sekunden da stehen, nicht wissend, ob ich die Tür wieder schließen oder nur ranmachen sollte. Am Ende entschied ich mich dann doch fürs Schließen, die andere Option verursachte alles andere als Wohlwollen in mir und sollte das Tier rauswollen, würde es wohl schon auf sich aufmerksam machen.
   Auf der Couch sitzend beobachtete ich die Katze ganz genau, die gerade dabei war, aus einer Schale am Boden der offenen Küche zu trinken. Anhand der recht großen und kräftigen Statur und dem langen Fell, besonders am Schwanz, nahm ich an, dass es sich bei dieser Rasse um eine sogenannte „Maine Coon" handelte. Eigentlich kannte ich mich nicht besonders mit Katzen aus. Zwar besaßen wir mal eine, als ich noch klein war, aber das machte mich ja nicht direkt zum Katzenprofi. Allerdings war die Maine Coon eine beliebte Familienkatze, die auch noch aus dieser Ecke hier oben stammte, dadurch war sie mir schon das ein oder andere Mal über den Weg gelaufen. Sie galten als sehr intelligent, friedliebend, anhänglich und dem Hund im Prinzip ziemlich ähnlich, diese hier war zudem auch noch eine von den besonders hübschen Exemplaren, wenn auch ihr Fell etwas verfilzt war. Und wie aufs Stichwort kam eben jenes verfilzte, hübsche Exemplar schnurstracks auf mich zugetapst. Sie sprang auf die Couch, ich streckte ihr die Hand entgegen und alles andere als scheu schmiegte sie sich in diese, ließ sich ausgiebig von mir kraulen. Maine Coons waren sehr Menschen-bezogene Katzen. Ich nahm an, auch sie musste schrecklich einsam gewesen sein...

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt