Kapitel 48 - Süßer Anfang, bitteres Ende - Svea

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Alles um mich herum war wohlig warm und roch nach Vertrautheit. Lakritzähnlich. Ich wusste nicht sofort, wo ich war, aber es war bequem und heimelig. Das musste der schönste Ort der Welt sein und ich hatte ihn nicht einmal wirklich gesehen. Entgegen des Bedürfnisses öffnete ich meine verklebten Augen. An dem guten Gefühl änderte der verschwommene Anblick von Nathaniels Zimmer nichts, außer, dass ich mir wieder der gesamten Situation bewusst wurde. Er war nicht hier. Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen, die Betthälfte auf der ich nicht lag war knittrig, aber zum größten Teil kalt. Als hätte dort vor einer Weile jemand gelegen... ich strich über das Lacken und fragte mich, ob ich mich nur viel bewegt hatte oder ob jemand anderes die Falten verursacht hatte. Der Raum war verdunkelt, warf verschwommene Schatten und ich schob die Decke von meinem Schoß, auch wenn das Gefühl herrlich war - draußen hörte ich keine Stimmen und ich mochte das Gefühl nicht, nicht zu wissen, wie lange ich geschlafen hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich weder Jacke, noch Schuhe trug. Ich erinnerte mich nicht, wie und wann ich sie ausgezogen hatte oder ob ich das überhaupt selbst getan hatte, aber allgemein waren alle meine Erinnerungen verschwommen nachdem Nath mich Huckepack genommen hatte. Mich überkam allerdings das schlechte Gewissen mit meinen stinkenden, schmutzigen Sachen in seinem Bett geschlafen zu haben. Ich hatte das Gefühl, den süßlichen Geruch von Verwesung zu riechen, konnte aber nicht unterscheiden, ob das Einbildung oder Wirklichkeit war.
Seufzend stand ich auf. So richtig fit fühlte ich mich nicht. Etwas Anständiges zu essen wäre wohl gut, aber mir war eher nach einer Dusche. Gähnend sah ich mich um und entdeckte meinen Rucksack an der Bettkante stehen, neben ihm lag Flips Leine. Ich hockte mich hin und suchte mir meine Wechselkleidung heraus, ließ sie aber vorerst auf dem Bett liegen. Vorher würde ich mich auf den neusten Stand der Dinge bringen. Ich trat auf den Flur und lief ihn ein Stück entlang, als mir auch schon Kim entgegen kam. Ihre Haare waren feucht und sie roch einfach unglaublich gut.
„Na, gut geschlafen?", sie schmunzelte.
Ich nickte.
„Wie... lange sind wir schon hier?"
Dunkel war es nicht, also war es zumindest noch nicht Abend. Ich hatte vergessen wie spät es war, als wir hier ankamen.
„Zweieinhalb Stunden vielleicht? Es ist kurz nach halb drei."
Es war also früher Nachmittag.
„Ah, gut, danke."
„Das Bad müsste noch frei sein", sie grinste noch einmal und ging dann. Ich huschte schnell zurück in Nathaniels Zimmer und holte meine Sachen, ehe ich regelrecht ins Bad sprintete und hinter mir abschloss. Abgesehen von dem Drang zu duschen drückte meine Blase.

Ich hatte es glaube ich noch nie so sehr genossen zu duschen. Das warme Wasser spülte gefühlt Zentimeter an Schweiß und Schmutz von mir. Es war eine Wohltat und der Gedanke ewig unter der Brause zu stehen war verlockend. Doch letztendlich stellte ich das Wasser ab, stieg aus der Duschwanne und trat an den Spiegel. Die Lüftung hatte ihn vor dem Beschlagen geschützt und so konnte ich das erste Mal meine kurzen Haare in nass sehen. Nach wie vor hatte ich mich noch nicht ganz daran gewöhnt. Mein ganzes Leben lang war meine kürzeste Frisur schulterlang und nun hatte ich kürzere Haare als manche der Jungs. Ich putzte mir die Zähne, bevor ich mich fertig machte und die Haare kämmte. Als ich aus dem Badezimmer trat, fühlte ich mich wie neu geboren. Meine frischen Socken waren auf dem sauberen Parkett rutschig und es war bereits richtig ungewohnt geworden keine Schuhe zu tragen. Aber die Jacotts duldeten normalerweise keine Schuhe im Haus. Das machte Dreck und beide Hälften dieser Ehe waren sehr reinlich. Es war ein großartiges Gefühl wieder saubere Kleidung zu tragen. Meine Leggings hatte keine Flecken, mein schwarz-weiß gestreifter Pullover mit rosa Ärmeln auch nicht. Aber vor allem stank nichts davon.
„Du bist schon wieder wach?", die Stimme war verwundert und sie zu hören trieb mir fast erneut die Tränen in die Augen. Er war wirklich hier. Es war so unwirklich. Vielleicht schlief ich ja und träumte nur. Oder ich war tot. Vielleicht waren wir ja auch beide tot. Ich verlor erneut den Kampf gegen meine Gefühle und fing wieder an zu heulen. Naths Mimik wandelte sich. Seine Augen wurden groß und er setzte an etwas zu sagen, unterließ es dann aber. Stattdessen nahm er mich einfach wortlos in den Arm und strich mir über die nassen Haare. Einen Augenblick lang genoss ich die Ruhe, die er in mir auslöste, bevor ich meine Stimme wiederfand.
„Kannst du mich mal kneifen?", meine Stimme war belegt. Ich musste mir einfach sicher sein, dass ich nicht träumte.
„Was? Nein!", er schob mich ein Stück von sich.
Ich seufzte. Das war so typisch Nathaniel. Egal ob ich jetzt träumte oder nicht. Wenn, dann war er zumindest authentisch. Ich kniff mich einfach selbst. Er war immer noch da, mit seinen Händen an meinen Hüften und mich musternd.
„Was tust du?", er wirkte verwirrt und hatte seine Augenbrauen gehoben.
„Überprüfen, ob ich träume."
Er musste schmunzeln.
„Du bist wach, keine Sorge."
Ich musste kichern. Es war einfach nur lächerlich wie viel Angst und Unsicherheit noch immer in mir waren.
„Geht es dir besser?", seine Hände strichen kurz über die Kurve meiner Hüfte, bevor er sie auf meine Schultern legte.
„Ja, die Dusche hat Wunder bewirkt, a-", ich stoppte mich beim Weitersprechen. Im Hause Jacott wollte ich wirklich nicht durch Ansprüche auffallen.
„Aber?", seine Augen fixierten mich, seine rechte Hand wanderte in meinen Nacken und lenkte meinen Kopf so, dass er mir genau in die Augen schauen konnte.
Ich zögerte.
„Sveezy", seine Tonlage war halb belustigt, halb ernst.
„Etwas richtiges zu Essen wäre eigentlich echt toll, aber ich möchte wirklich nicht negativ auffallen."
„Tust du nicht, komm."
Ohne auf meine Antwort zu warten, griff er nach meiner Hand und zog mich mit sich. Seine war so groß, dass meine vollständig in ihr verschwand, aber sie war so herrlich warm, wie ich es von ihm kannte. Ich folgte ihm mit einem heftig klopfenden Herzen in die Küche, wo ein Topf auf dem Herd stand.
„Ihr habt schon gegessen?"
„Nicht alle. Hauptsächlich war es für die Kinder."
Er nahm zwei Teller aus dem Hochglanzschrank und füllte etwas von den verbleibenden Nudeln auf. Etwas Tomatensoße gab es auch.
„Ist das denn okay, wenn wir einfach was nehmen?", ich musterte ihn mit Sorge.
Ich wollte keinen Ärger auf Nath lenken. Besonders nicht mit Mr Jacott. Er blickte mich einen Moment lang an, dann lächelte er.
„Mach dir nicht so viele Gedanken. Meine Mutter hat extra betont, dass wir das bloß essen sollen. Es darf nichts verschwendet werden."
Ich nickte. Noch immer hatte ich das Gefühl, dass Nath jeden Augenblick verschwinden könnte.
„Ist das genug? Ich möchte noch jemandem was übrig lassen."
Er hielt mir einen der Teller unter die Nase.
„Das reicht. Nach diesen Tagen werde ich sowieso nicht so viel essen können."
Nathaniel füllte mir nickend Soße auf und reichte mir den Teller, ich holte das Besteck. Es war alles noch dort, wo es auch schon war, als ich hier das letzte mal gemeinsam mit Nath den Tisch gedeckt hatte. Als ich die Schublade wieder schloss, hatte Nath sich selbst auch etwas aufgefüllt. Wir setzten uns nebeneinander auf zwei Barhocker der Kücheninsel und ich reichte ihm sein Besteck. Ich konnte nicht anders als zu grinsen. Mir kamen kalte Spaghetti mit lauwarmer Soße noch nie so unwiderstehlich vor.
„Guten Appetit", ich grinste ihn einmal an und musste einfach einmal kurz seine Hand drücken. Es war, als ob alles an mir das als Bestätigung brauchte, dass ich wirklich nicht träumte. Ich konnte es mir nicht anders erklären, warum ich ihn die ganze Zeit berühren wollte. Wir aßen in ein angenehmes Schweigen gehüllt unsere Spaghetti. Es stellte sich heraus, dass Nath meine Portion gut geschätzt hatte. Mehr hätte ich ohne ein unangenehmes Gefühl des vollgestopft-seins nicht essen können. Wir stellten unsere Teller in den Geschirrspüler und nahmen uns ein Glas Wasser. Auf der Arbeitsfläche standen einige auf denen jemand mithilfe eines Streifen Krepbands Namen angebracht hatte. Die Rolle und der Stift lagen auch dort, also beschrifteten wir unsere ebenfalls. Noch mit dem Glas an den Lippen fiel mir etwas ein, das ich Nathaniel fragen wollte.
„Hat Amber dich eigentlich begrüßt?", ich hoffte es wirklich für sie.
„Ja, hat sie. Ist noch gar nicht so lange her."
„Nicht?"
„Eigentlich kam ich gerade von ihr als ich dich getroffen hab."
„Ah, okay."
Es wurde wieder still. Erneut war es nicht unangenehm, vielleicht etwas ratlos. Ich trank mein Glas Wasser aus und stand auf um es wegzustellen. Mir ging es jetzt mit etwas im Magen gleich viel besser. Mir kam Flip in den Sinn.
„Sind Flip und Demon immer noch vor der Haustür?", ich drehte mich zu ihm, als er ebenfalls an die Arbeitsfläche kam.
„Nein, Castiel hat sie in den Garten gebracht. Möchtest du nach Flip sehen?"
Er stellte sein Glas zu den anderen.
„Unbedingt!", ich überlegte gar nicht lange, bevor ich nach seiner Hand griff und ihn mit mir zog. Er folgte mir ohne großen Widerstand. Mir fiel auf, wie wenig Leuten wir begegneten. Einmal kam uns Iris entgegen, einmal Melody, die bei unserem Anblick erblasste. Ich verschwendete keinen weiteren Gedanken an sie.
„Wo sind denn alle?", ich drehte mich halb zu ihm um und bremste meine Schritte.
„Ich glaube, die meisten sind nach dem Duschen erst einmal etwas schlafen gegangen."
„Hätte ich mir denken können", mein Schmunzeln übertrug sich auf seine Lippen. Sie waren, wie mir auffiel, spröde und zerbissen, so als hätte er in letzter Zeit viel auf ihnen gekaut. In einem gemächlichen Tempo gingen wir in Richtung des Gartens. Als Nathaniel die Tür zum Wohnzimmer öffnete hatte ich kurz Angst, dass dort sein Vater sitzen würde. Erleichterung flutete mich, als dem nicht so war. Lediglich ein schwarzhaariger, mir unbekannter junger Mann saß dort mit John auf dem Sofa. Ich nickte ihnen zu und blickte dann in Richtung der Terrassentür. Oder zumindest war dort mal eine, die auf eine Terrasse führte, denn nun führte sie in... einen Wintergarten? Vor Überraschung ließ ich Naths Hand los. Der war früher noch nicht da.
„Seit wann gibt es den denn?", meine Überraschung musste sich in meinem Gesicht widerspiegeln, denn Nath begann zu glucksen.
„Der Bau begann kurz nach meinem Auszug."
Das erklärte immerhin, weshalb ich ihn nicht kannte. Das letzte Mal war ich zwei Jahren zuvor vor Nathaniels Auszug hier und davor mit dreizehn. Vor der Glastür standen Puschen, die im Wintergarten getragen werden konnten. Die Anzahl der Fenster hatten die Jacotts für den Wintergarten nicht geändert, es gab keine Glasfront, die einen unbegrenzten Blick in ihn gewährte.
„Svea? Kommst du mit?", Nathaniel hatte die Glastür aufgeschoben und war in ein Paar Schlappen geschlüpft. Ich erwachte aus meinen Gedanken und schüttelte meinen Kopf um sie zu vertreiben.
„Sicher, sicher. Ich folge dir."
Auch ich zog mir ein paar Hausschuhe an und betrat den Wintergarten. Ein runder Glastisch stand nicht weit von der Schiebetür entfernt, umrandet von modernen dunkelgrauen Flechtstühlen. Überall standen Pflanztöpfe in dem gleichen Farbton herum, gefüllt mit den unterschiedlichsten Pflanzen, die meisten ohne Blüten. Es waren viele Farne und kleine Bäumchen dabei. Genauso wie die in Form getrimmten Büsche draußen, die langsam aus ihren erzwungenen Formen herauswuchsen, zeigte auch der Rest des Gartens hinter der Glasfront erste Anzeichen des Verwilderns. Die Jacotts hatten nie einen sehr tierfreundlichen Garten, was sich nun langsam aber sicher änderte. Der Rasen wurde länger, die Pflanzen wuchsen wieder so, wie die Natur es wollte und ich musste sagen, so fand ich es um einiges schöner, als so getrimmt und gemäht. Flip und Demon sprangen über die Rasenfläche, auf der Castiel stand und immer wieder einen Ball für sie warf. Am anderen Ende des Wintergartens, angrenzend an eine Glasfront und die Hauswand, stand ein graues Sofa zusammen mit einem kleinen gläsernen Kaffeetisch. Über die Rückenlehne der Couch lagen einige zusammengefaltete Decken in weiß und grün.
„Setzen wir uns? Ich möchte Flips Spiel mit Castiel und Demon nicht unterbrechen."
Ich sah Nath an, der Castiel und die Hunde betrachtete. Er nickte.
Vielleicht etwas zu vorsichtig setzte ich mich auf das Sofa, Nath ließ sich neben mir nieder. Ein paar Sekunden war es ruhig und ich fühlte mich merkwürdig angespannt. Im Wintergarten war es längst nicht so kühl wie draußen, aber auch nicht wirklich warm. Ich zitterte kurz ein wenig. Nur einen Wimpernschlag später lag eine grüne Decke über meinen Schultern.
„Nicht, dass du noch krank wirst", Nathaniel lächelte mich warm an.
Das Funkeln in seinen Augen war noch viel schöner als in meinen Erinnerungen, viel strahlender, als das Leuchten, an das ich mich die letzten Tage geklammert hatte. Ich befürchtete, dass ich immer noch nicht ganz realisiert hatte, dass er wirklich hier bei mir war. Wahrscheinlich würde mir dabei nur die Zeit helfen. Ein paar Minuten lang sprachen wir über dieses und jenes. Auch den Tod Peggys sprach ich zögerlich an. Er wusste zwar bereits durch jemand anderen davon, aber es tat gut, meine Gefühle diesbezüglich aussprechen zu können.
„Sveezy, du kannst nichts dafür. Du kannst Karate und bist nicht Wonder Woman."
Er versuchte mich zu besänftigen und legte einen Arm um mich. Ich seufzte.
„Klar, aber dennoch. Ich hab mich viel zu schnell in Sicherheit gewähnt. Das war dumm."
„Es war einfach menschlich. Ist ja nicht so als wäre die Situation völlig normal für uns. Sei nicht so streng mit dir. Tode lassen sich einfach nicht immer verhindern. Erst recht nicht in so einer Welt in der wir jetzt leben."
Er hatte durchaus recht. Trotzdem schmerzte diese Hilflosigkeit, die mich einfach nicht loslassen wollte. Konnte man sich an dieses Gefühl gewöhnen, verging es irgendwann? Ich spürte, wie die Unruhe in mich zurückkehrte.
„Ich... muss dir übrigens noch etwas sagen... beziehungsweise ausrichten."
Ich blickte in Nathaniels Gesicht. Ich sah, wie er mit sich haderte, wie unangenehm ihm die ganze Situation zu sein schien. Er schien richtig Angst davor zu haben – oder vielmehr vor meiner Reaktion?
„Ja?", ich legte den Kopf schief. Sein Verhalten verunsicherte mich. Was würde er mir erzählen? Mein Herz begann in böser Vorahnung zu rasen.
„Es... geht um Simon."
Die Welt um mich stoppte. Lange hatte ich diesen Namen nicht mehr gehört, nicht einmal gedacht. Nicht in Verbindung zu dieser Person. Ich hatte ihn in meinen Gedanken immer nur noch als meinen Exfreund bezeichnet. Das verschaffte mir Abstand, schmerzte weniger, entmenschlichte ihn.
„Wie...?", ich fand meine Stimme wieder. Aber sie war schief und schrill.
„Wir sind ihm begegnet und... ich... ich habe", Nathaniel stockte, suchte nach den richtigen Worten, obwohl es diese wahrscheinlich nicht gab, „Ich soll dir von ihm ausrichten, dass er bedauert, was er getan hat, dass er weiß, wie unentschuldbar das war. Und dass du ihm wirklich was bedeutet hast."
Nathaniels Blick war voller Unsicherheit und Angst und ich erkannte, dass er mir etwas verschwieg. Aus meiner Kehle entwich ein Lachen. Abstrakt, hilflos, wahrscheinlich wahnsinnig klingend. War das ein schlechter Scherz?

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