Kapitel 37 - Diskussionen - Kyra

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Wie immer wurde dieses Kap auf FF.de schon längst hochgeladen und ich hab es auf Wattpad wieder verschusselt.

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Ich wurde nicht besonders gern kritisiert.
   „Und dir fällt nichts anderes ein, als einen fucking Stuhl nach uns zu werfen? Ist dir eigentlich klar, wie sehr das hätte ins Auge gehen können??"
   Den eben erwähnten Stuhl hatte ich vor nicht einmal zehn Minuten oben vom Balkon in Richtung Straße geworfen. Zwar konnte man nun nicht gerade behaupten, ich würde viel Kraft besitzen, doch da das Haus nahe des erkalteten Teers erbaut worden war, flog das Möbelstück tatsächlich bis auf dieses. Ein lauter Knall ertönte dabei, der Fahrer des Motorrades machte vor Schreck einen Schlenker. Nun ja, es endete damit, dass ich, so gut es mir mit meinem verwundeten Bein möglich war, raus rannte und Castiel, der ebenso wie sein Mitfahrer mittlerweile abgestiegen war und seine Waffe gezückt hatte – wohlgemerkt auch kurz auf mich richtete -, geradewegs in die Arme lief. Mir war einen Moment danach, vor Glück und Erleichterung zu weinen, jedoch riss ich mich gerade so noch am Riemen und führte die beiden in meine Zuflucht aka mein Gefängnis.
   Wir waren kaum ein paar Minuten im Haus, schon verflog die Wiedersehensfreude und der Fliegenpilz begann, rumzuzetern. Mimimi hier, mimimi da, mimimi sie hätten sterben können, mimimi. Wir alle hätten bereits jederzeit sterben können!
   „Ihr seid nicht tot, okay?!", brüllte ich ihn an, als es mir zu viel wurde und konnte nicht einmal dafür sorgen, „leise" zu brüllen. „Mir ist so schnell nichts anderes eingefallen, ich war in Panik, ich bin hier bereits seit Tagen gefangen, ich wollte einfach nicht mehr allein sein!" Ich war so wütend und glücklich und traurig und verwirrt, und dass er mich in einer Situation wie dieser jetzt anpöbelte, machte alles nur schlimmer. Warum tat er das? War das gerade wirklich nötig? So ein Scheißkerl!
   „Castiel, sie hat recht, beruhige dich. Sei nicht so laut." Der blonde Typ, den ich bisher kaum beachtet hatte, kam mir nun zur Hilfe und hatte die Arme verschränkt. Sein Gesichtsausdruck war ernst, seine Haltung distanziert und da er und Castiel sich, soweit ich mitbekommen hatte, nicht besonders gut verstanden, nahm ich an, dass er damit überzeugender wirken wollte.
   „Du hast mir gar nichts zu sa-"
   „Schluss jetzt!", unterbrach ich ihn und ließ meine geballten Fäuste senkrecht nach unten sausen. Ich tigerte den Wohnbereich auf und ab, wie um mich zu beruhigen, doch es wollte nicht so ganz klappen, also warf ich mich auf die Couch, umklammerte eines der fremden Kissen vor meinem Brustkorb und krallte meine Finger hinein. Ich fühlte mich gerade wie ein kleines, bockiges Kind. Aber man behandelte mich ja auch wie eines. So hatte ich mir ein Wiedersehen definitiv nicht vorgestellt. Seufzend vergrub ich mein Gesicht im Kissen. Ich wünschte, diese Unhöflichkeiten wären unser größtes Problem...
   Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis ich eine Absenkung neben mir spürte. Aufzusehen hatte ich aber keine Lust. Also versuchte ich einfach weiter, nicht durch das mühselige Atmen gegen das Kissen zu ersticken.
   „Hey..." Das war Castiel. Er seufzte. Schwieg. Sprach: „Okay, sorry. Du hast Recht. War nicht so gemeint."
   Das hoffte ich auch für ihn. Aber nun sah ich immerhin wieder auf. Viel länger hätte ich das Wiedereinatmen meines Kohlenstoffdioxids wahrscheinlich eh nicht mehr ertragen. Ausdruckslos starrte ich ihn an. Fünf, zehn, fünfzehn Sekunden wahrscheinlich, bis ich wortlos meine Arme nach ihm ausstreckte. Er schien zunächst verwirrt davon, denn er zögerte und hob eine Augenbraue. Dann aber rollte er mit den Augen und erwiderte meine Geste, nahm mich in den Arm. Er war schön warm. Ich merkte erst jetzt so richtig, wie sehr ich doch die menschliche Nähe vermisst hatte. Ich war nicht mehr allein. Das war gut. Sehr gut...
   Ich hörte Tapsgeräusche, öffnete die Augen und sah im Augenwinkel, wie Moon zielstrebig auf die Couch zwischen uns sprang. Der Rothaarige bemerkte dies, entdecke die Katze und sprang mit einem lauten, angewiderten Geräusch mehrere Meter von uns weg.

„Halt' einfach diese Höllenkreatur von mir fern!", befahl mir die rothaarige Mimose gefühlt zum tausendsten Mal, während er gefühlt den tausendsten Schritt von Moon wegtrat, die ihm konsequent folgte und ihn hin und wieder protestierend anmauzte. Scheinbar wollte sie von ihm gekrault werden – und auch nur von ihm.
   „Geh weg, du Mistvieh! Da, geh' zu diesem Katzen-liebenden Schwachmaten!" Castiel fuchtelte mit seinem Arm in Richtung Nathaniel – Name gemerkt, Check!
   Moon hatte allerdings keinerlei Interesse daran, zu Nathaniel zu gehen und ich hatte das Gefühl, das knickte ihn auch ein wenig. Sein Blick war zumindest starr auf die Katze gerichtet, die ihn keines Blickes würdigte. Schon merkwürdig. Noch merkwürdiger war allerdings der Anblick des knallharten, rothaarigen Mega-Badboys auf einem Stuhl stehend, der früher wohl eigentlich zum Sitzen am Essenstisch gedacht war, den eiskalten Blick, der Eisblöcke zum Erzittern hätte bringen können, auf das große, vierbeinige Wesen gerichtet, das sich vollkommen entspannt vor diesen Stuhl setzte und ihn anmiaute.
   „Irgendwie siehst du aus, als hättest du Angst, Darling", kommentierte ich nur trocken dazu.
   Castiel schnaubte und blaffte: „Schwachsinn. Ich berechne nur die Wahrscheinlichkeit des Todes von diesem Vieh, wenn ich drauf springe."
   „Und trotzdem sieht es so aus, als hättest du Angst - vor einer lieben, süßen Katze", gab ich unbeeindruckt zurück. Nathaniel verdrehte auf sein Kommentar hin nur stumm die Augen. Ich stand auf und ging zu Moon hinüber, hob sie auf meine Arme und trug sie zurück zum Sofa. Augenblicklich begann sie zu schnurren und rollte sich neben mir auf der weichen Unterlage zusammen. Anscheinend hatte sie nun doch genug vom Giftpilz und gab sich mit mir zufrieden.
   „Du hinkst ja", bemerkte der Blondschopf besorgt. „Bist du verletzt?"
   Ich machte eine abtuende Handbewegung und beobachtete Castiel dabei, wie er wieder von seinem Podest der Furcht herabstieg. „Wurde bei meiner Flucht angeschossen. Ist aber soweit alles gut, hatte mich noch an dem Tag darum gekümmert und es scheint, als hätte sich auch nichts entzündet oder dergleichen."
   Der Rotschopf hielt mitten in seiner Bewegung inne. „Du wurdest was?!", fragte er mich ganz schockiert, woraufhin ich ihn etwas merkwürdig anschaute. „Angeschossen", wiederholte ich langsam, deutlich und etwas verunsichert. „Mach' bitte keinen Trubel draus. Alles gut."
   „Zeig' bitte her", mischte sich nun auch noch Nathaniel ein. Mein Blick, den ich ihm zuwarf, musste an massiver Verständnislosigkeit grenzen. Sein Blick allerdings war besorgt und ging mir unter die Haut. Unangenehm unter die Haut. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen machte, ich wollte nicht, dass sich gar wer Sorgen machte. Und vor allem wollte ich mich jetzt nicht vor den beiden ausziehen...
   „Muss das jetzt echt sein? Ich habe doch gesagt, es ist alles gut."
   Nathaniels Blick allerdings war unerbittlich und lies keinen weiteren Widerspruch zu. Unwohl grummelnd richtete ich mich auf, griff um den Bund meiner geklauten Leggins und zog diese bis knapp unterhalb der Schusswunde herunter, ehe ich mich wieder setzte. Moon schnurrte noch immer wie ein Automotor. Ich versuchte, mich einfach weiter darauf zu konzentrieren, während sich der Blondschopf neben mich hockte, den Verband abrollte und meine selbst verarztete Wunde untersuchte. Natürlich lies er sich zu viel Zeit dabei.
   „Sieht tatsächlich ganz gut aus", meinte er nach etwa 23 Jahren und stockte kurz. „Also, der Heilungsprozess, mein ich. Und du meinst, du hättest dich selbst darum gekümmert? Was genau hast du denn gemacht?"
   Spätestens jetzt wurde auch Castiel neugierig. Wobei er zuvor auch schon mit einem kritischen Blick Nathaniel beobachtet hatte, als hätte er Angst, Nath könnte seine Hand zu weit an meinem Schenkel nach oben wandern lassen oder so. Was ein Schwachsinn. Dieser Verbindung nach zu urteilen, die ich bei ihm und Svea gesehen hatte, wäre dies das letzte, worüber ich mir Sorgen machen würde. Aber Castiel wusste ja vielleicht nichts von den beiden. Wäre mir auch neu, würde er sich für den Kram anderer Leute interessieren.
   „Hab die Wunde mit einer Alkohol-Wasser-Mischung behandelt, die Kugel mit 'ner Pinzette rausgeholt und die Wunde verbunden."
   Eigentlich dachte ich nicht, damit etwas falsch gemacht zu haben. Allerdings ließ mich der Blick, den die beiden mir zuwarfen, etwas daran zweifeln. Pures Entsetzen.
   „Bist du von allen guten Geistern verlassen?!", ging mich Nathaniel nach seinem Schock direkt an und ich musste durchs Zurückschrecken erst einmal aussetzen. „Wie kommst du auf so eine dumme Idee?"
   „Hast du zu viele Actionfilme gesehen, oder wie?", war der Kommentar von Castiel dazu, der lustig hätte sein können, wenn sein Blick nicht vorwurfsvoll und undurchdringlich gewesen wäre. Und wieder einmal fühlte ich mich wie fünf. Nathaniel war aber noch nicht fertig mit mir: „Kyra, du hättest sterben können!"
   Der fünfjährigen Kyra wurde immer heißer vor Trauer und gleichzeitiger Wut. „Was? Ich dachte, ich würde sterben, wenn ich das nicht tue!"
   Der Blondschopf massierte sich den Nasenrücken, wohl um nicht vollkommen auszurasten. Meine Augen wanderten kurz zu Castiel, doch sein Gesicht war mittlerweile unleserlich geworden. Alles, was er tat, war mich anzustarren. War denn hier echt niemand auf meiner Seite?
   „Nein", seufzte Nathaniel. „Du hättest durch das Entfernen der Kugel so viel mehr Schaden verursachen können, als er ohnehin schon da war. Du hättest noch mehr Gewebe zerstören, wichtige Arterien oder Nerven beschädigen oder trennen können, ohnmächtig werden und was weiß ich alles. Es ist nicht mehr zwangsweise notwendig, Kugeln aus dem Körper zu entfernen, denn eine Bleivergiftung ist heutzutage eher selten und der Körper könnte sie von selbst abstoßen oder sich an sie „anpassen". Kyra, weißt du überhaupt, was für ein Glück du gehabt hast, nicht verblutet zu sein?!"
   Es brodelte in meinem Magen und zugleich fühlte ich mich schlecht, so fahrlässig gewesen zu sein. Ich wusste, die beiden machten sich nur Sorgen um mich, aber mit der Art und Weise, wie sie es mir sagten und zeigten, konnte ich schlecht umgehen. „Wolltest du mal Arzt werden, oder wie?!", giftete ich ihn deshalb nur an, obwohl ich wusste, dass es kindisch war.
   „Unter anderem, ja", entgegnete er schlicht. Ich verstummte. Mein schlechtes Gewissen wurde lauter und untergrub meine Wut nun vollkommen. Ich entzog mich Nathaniels Untersuchung, zog mir die Leggins wieder dort hin, wo sie hingehörte und dann meine Beine an meinen Körper. Meine Hand fuhr wie von selbst durch Moons Fell, während ich sie dabei beobachtete, wie sie bei ihrem Automotorenschnurren noch einen Gang hoch schaltete. Bis auf dieses Geräusch war ein paar Minuten lang sonst nichts zu hören. Zumindest hörte ich nichts Weiteres. Erst als ich etwas Scheppern hörte, blickte ich wieder erschreckt auf. Castiel war gegen die Wasserschale gekommen, die ich für Moon auf den Boden gestellt hatte.
   „Scheißding", grummelte der Rotschopf.
   „Was tust du da?", wunderte ich mich.
   „Nach was Essbarem suchen, siehst du das nicht?"
   „Ehrlich gesagt, nicht so wirklich. Da steht noch Müsli im Hängeschrank ganz links. Bisschen Milch, die noch nicht schlecht geworden ist, ist auch noch da. Ansonsten könnte ich Ihnen auch noch ein bisschen Erdbeermarmeladenbrot mit Honig anbieten. Viel mehr werden Sie in meinem Hause aber wohl nicht finden."
   Während meines Monologes hatte er seinen Kopf sehr langsam immer weiter in meine Richtung gedreht und mir einen Blick zugeworfen, der unmissverständlich „Was laberst du bitte? Halt's Maul." sagte. Allerdings schenkte er mir nicht sehr lange Aufmerksamkeit, sondern machte sich daran, sich eine Schüssel Müsli zuzubereiten. Wie das Einzelkind, das er war, machte er auch nur sich selbst eine und in der Zeit, in der er das tat, tauchte auch Nathaniel wieder auf.
   „Wo warst du?", fragte ich ihn, als sei nie etwas vorgefallen.
   „Im Badezimmer. Habe gehofft, die Familie, die hier gelebt hat, hätte vielleicht Antibiotika hier. Wie erwartet leider nicht, ist schließlich auch verschreibungspflichtig.
   „Antibiotika? Was willste damit?"
   „Nun, deine Wunde medizinisch versorgen, was sonst? Es scheint sich nicht infiziert zu haben, aber ich wäre beruhigter, wenn ich mehr dafür tun könnte, dass das auch so bleibt."
   „Jetzt mach dir nicht ins Hemd, Goldlöckchen. Sie wird's überleben", schmatzte Castiel zwischen zwei Löffeln zu uns hinüber. „Goldlöckchen" wollte anscheinend etwas kontern, jedoch verstummte er beim Anblick der Müslischüssel und sein Magen antwortete stattdessen mit einem lauten Grummeln.
   „Iss ma', schmeckt schön", schmunzelte ich, auch wenn er es nicht sah.

Mit ein paar Flaschen zwischen den Händen, die mir auch beinahe herunter fielen, kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Die große Maine Coon Katze hatte mittlerweile Gnade bei Nathaniel walten lassen und ließ sich ausgiebig von ihm kraulen. Castiel schien darüber ganz glücklich zu sein, hielt aber weiterhin einen großzügigen Sicherheitsabstand und blätterte in irgendeinem Heft. Neben ihm stellte ich laut die Flaschen ab. Der Rotschopf schreckte dabei hoch.
   „Wenn dieses Haus etwas besitzt, dann eine respektable Sammlung an teuren alkoholischen Getränken. Bisschen was zum Mischen steht auch im Hauswirtschaftsraum. Wem darf ich einschenken?", fragte ich fast schon gut gelaunt.
   Der Blondschopf war direkt alarmiert: „Du willst doch jetzt nicht ernsthaft was trinken?!"
   „Warum denn nicht? Mir ist sehr danach, mir all den Scheiß aus dem Kopf raus zu saufen."
   „Klingt gut!", stimmte Castiel mit ein und stand direkt auf, um ein paar Gläser zu suchen.
   „Das kann nicht euer Ernst sein! Wir müssen weiter und die anderen suchen!"
   Castiel warf einen herumliegenden Kugelschreiber nach ihm. „Sei nicht so ein Spießer, Alter! Siehst du nicht, dass es draußen regnet?" Danach stellte er seine ergatterten Gläser neben dem Hochprozentigen auf den Tisch und verschwendete auch gar nicht erst Zeit, direkt welchen in die drei Gläser zu schütten. Ich ging dagegen in den HWR und holte etwas zum Mischen, während Nathaniel weiter protestierte. „Wir haben schon zu viel Zeit vergeudet!"
   Scheiß doch drauf. Scheiß auf alles. Vielleicht hatten wir Zeit vergeudet. Vielleicht hatten die anderen einen großen Vorsprung. Vielleicht waren alle anderen tot. Vielleicht hing es von diesem einen Abend ab, die anderen zu finden. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. De facto wussten wir es nicht, wussten nichts. Wir mussten lernen, im Hier und Jetzt zu leben, mussten verlernen, zu überlegen, was wir in Zukunft machten, denn wenn es jemals schwer war, seine Zukunft zu planen, dann jetzt. Definitiv jetzt. Und diese Tatsache wollte ich unbedingt vergessen, einfach aus meinem Kopf verbannen, zumindest für heute Abend. Ich wollte vergessen, dass ich angeschossen wurde, ich wollte vergessen, dass ich bei meiner Do-It-Yourself-Behandlung leicht hätte drauf gehen können, ich wollte vergessen, dass ich in den letzten Wochen praktisch jeder Zeit leicht hätte drauf gehen können, ich wollte vergessen, welch riesige Sorgen ich mir um die anderen machte, wollte vergessen, wie groß meine Sorgen um Pia waren, um Laeti, und insbesondere um Lysander. Welch eine Traumvorstellung, all das zumindest ganz kurz vergessen zu können...
   Zurück im Wohnzimmer reckte ich wie triumphierend die Colaflaschen in die Luft. „Die Party kann losgehen!"

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