Alles drehte sich in mir. Vor mir. Über mir, unter mir. Ich ließ die Sachen von meinen Armen geradezu auf den Wohnzimmertisch fallen, um mich in der gleichen Bewegung daran abzufangen und abzustützen. Mir war schwindelig und schlecht. Ich kniff die Augen fest zusammen, in der Hoffnung, mich so wieder fangen zu können, verhindern zu können, dass sich die Welt so ekelerregend drehte. Kam das nun von der Aufregung, John wiederzusehen? Dem Stress, der Sorge, der unglaublichen Ungeduld zu erfahren, was passiert war? Oder war es der Tatsache verschuldet, dass ich seit fast 24 Stunden kein Auge zugemacht hatte, obwohl ich vor Müdigkeit tot umfallen könnte? Der Beutezug gestern hatte extrem an meinen Kräften gezerrt, das ganze Geweine hinterher fast noch mehr. Doch die Sorge um meinen Bruder hatte mich nicht schlafen lassen, ich konnte es einfach nicht, egal wie erschöpft ich war. Und leider hatte ich Lysander da mit hineingezogen. Seit ich ihn mitten in der Nacht geweckt hatte, hatte auch er kein Auge zugemacht. Zwar wollte ich ihn weiterschlafen lassen, nachdem er es geschafft hatte, mich ein wenig zu beruhigen, doch er wollte sich nichts sagen lassen. Er wollte mich partout nicht alleine lassen, dieser Sturkopf. Er hatte es in Kauf genommen, sich mit mir die Nacht um die Ohren zu schlagen, weil ich nicht in der Lage war, schlafen zu gehen. Und ich wusste nicht, ob ich ihn dafür boxen oder doch lieber unendlich dankbar für sein wollte. Castiel war ich auch dankbar. Eine Weile war er mit uns wach geblieben, hatte sich wie immer von seiner schokoladigsten Schokoladenseite gezeigt, indem er ein paar blöde Sprüche drückte, die es tatsächlich geschafft hatten, mich etwas aufzumuntern. Oder wir drei sprachen einfach über dies und jenes. Aber es war nicht Castiel, der Stunden lang an meiner Seite verbracht und meine grenzenlose Aufgewühltheit allein durch seine Präsenz begrenzt gemacht hatte. Es war Lysander. Castiel ließen wir irgendwann schlafen, schließlich brauchten wir so viele ausgeschlafene, im Notfall kampffähige Teamkameraden wie nur irgend möglich. Vor allem wenn eine handvoll unserer besten und fähigsten Kollegen dort draußen waren, womöglich schon tot.
Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken, als ich an die lähmende Angst des Verlustes zurückdachte. An den Glauben, John und die anderen nie wieder zu sehen. Sie waren nicht tot, Kyra! Riss dich endlich zusammen! Sie. Waren. Nicht. Tot!
"Kyra, was ist los? Geht es dir nicht gut?" Die besorgte Stimme meines besten Freundes und seine Hand an meiner Schulter zwangen mich dazu, die Augen einen Spalt zu öffnen, obwohl es mir noch immer genauso beschissen ging, wie noch vor zwei Minuten. Alles an meinem Körper ächzte vor Schmerz und Erschöpfung. Ich wollte nur noch schlafen gehen und dennoch wusste ich, dass ich es nicht würde tun können, ehe ich nicht erfuhr, was den vergangenen Tag geschehen war.
Ohne hinzusehen ließ ich mich seitlich gegen Lysanders Brust fallen, vertraute darauf, dass er mich auffangen würde, sollte ich sie verfehlen. Zu meinem Glück hatte wohl auch er seine Sachen abgelegt, denn seine Arme schlangen sich sofort um meinen Oberkörper und hielten mich an Ort und Stelle. Es fühlte sich so bittersüß und vertraut an. So hatten wir den Großteil der Nacht verbracht, egal ob wir nun in seinem Zimmer waren, im Wintergarten, im Garten oder sonst wo. Eigentlich hatte er es nur dann nicht getan, wenn wir uns von einem Ort zum nächsten bewegt hatten. Dann hatte er sich meist damit begnügt, meine Hand mit der seinen zu verschränken.
Warum war er so? Womit hatte ich ihn verdient?
"Nein...", murmelte ich. "Mir ist schlecht. Irgendwie bricht gerade alles über mich herein. Wahrscheinlich nachlassendes Adrenalin..."
"Alles klar, setz dich erst einmal", wies er mich an und drückte mich vorsichtig auf den Stuhl hinter mir. Ich gab ein leises, protestierendes Stöhnen von mir, schließlich hatte ich nicht gesagt, dass er mich loslassen sollte. Und erst recht nicht, dass er weggehen sollte! Er machte allerdings eine beruhigende Handbewegung und meinte, in einer Sekunde wieder zurück zu sein.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs... Neunzehn. Zwanzig. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig.
"Du warst vierundzwanzig Sekunden weg", quengelte ich, als er mit einem Glas Wasser zurück kam und es mir in die Hand drückte. Ein sanftes Lächeln war alles, was er entgegnete. Müde betrachtete ich das Wasser, ehe ich wieder zu ihm aufsah. "Könntest du mir nicht lieber einen Kaffee machen?"
Der Silberhaarige schüttelte mit dem Kopf. "Kaffee ist nicht gut bei Übelkeit."
"Aber bei Müdigkeit."
Lysander hockte sich vor mich hin und nahm meine freie Hand in seine, sah mir tief in die Augen. "Wir werden beide sofort schlafen gehen, sobald wir erfahren haben, was den Vier zugestoßen ist, okay, Kätzchen?"
Mein müdes, erschöpftes Gehirn spielte mir einen Streich und löste bei seinen Worten ein Kopfkino aus, dass mir die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ. Wobei, Scham war es nicht wirklich, sondern vielmehr... Ich exte mein Wasserglas, um meine abdriftenden Gedanken zu verdrängen. Schlaf, ja, ich benötigte dringend Schlaf...
Ein paar Stimmen betraten den Raum und boten bei meinem Anblick direkt ihre Hilfe beim Verräumen der Beute an. Sah ich so schlimm aus? Seit gestern Abend hatte ich in keinen Spiegel mehr geschaut und bei deren Reaktion war ich mir ziemlich sicher, dies auch weiterhin vermeiden zu wollen.
Ich wollte aufstehen und weiterhelfen, nicht nutzlos in der Gegend herumsitzen, doch Lysander besah mich eines strengen Blickes, der mich stocksteif an Ort und Stelle fesselte. Wollte er, dass ich hier wahnsinnig wurde?! Um nicht an die ganzen Verletzungen von Johns Gruppe denken zu müssen, krallte ich mir einige kleinere Kartons, die zum Aus- und Einsortieren erst einmal auf diesem Tisch abgeladen worden waren. Kartons sahen irgendwie alle gleich aus, also keine Ahnung, ob es ausschließlich die waren, die sie von Vorhinein schon mitgenommen oder sie noch welche während ihres Raubzuges gefunden hatten. Fest stand, dass der Großteil ihrer Beute nicht aus Nahrungsmitteln bestand. Was zu erwarten war, da sie ja in ein Gewerbegebiet wollten, in welchem sich überwiegend Geschäfte für Autos und fürs Bauwesen säumten. Der Gedanke dahinter war, dass sich in diesen nützliche Waffen und Werkzeuge finden lassen könnten und gleichzeitig eine Chance auf Nahrungsmittel bestand, die noch nicht geplündert worden waren. Schließlich waren das doch eher untypischere Orte für die Aufbewahrung von Lebensmitteln, richtig? In einem Land, in dem gefühlt jeder eine Waffe bei sich trug, sollten Autowerkstätten und Co. zum Plündern doch eher von geringerem Interesse sein? Und welcher Betrieb, vor allem welcher Handwerksbetrieb, hatte bitte keine Nahrung bei sich lagern? Die waren doch ständig alle nur am Futtern, sie brauchten schließlich die Energie. Mein erster Instinkt als Otto-Normalverbraucher wäre in dem Fall jedenfalls gewesen, die Discounter und jegliche andere Art von Lebensmittelladen zu überfallen. Was machten schließlich die Menschen als erstes, sobald die Welt unterging? Richtig, Toilettenpapier und Hefe hamstern. Wobei, das machten sie wahrscheinlich in Deutschland, diese Spinner... Vielleicht dann doch eher Donuts?
Energisch schüttelte ich mit dem Kopf. Davon abgesehen, dass die größeren Läden schon längst ausgeraubt sein könnten, ging die große Gefahr von ihnen aus, von Infizierten nur so zu wimmeln. Deswegen war eine unserer wichtigsten Regeln: Es wurden nur überschaubare Gebäude betreten.
Als ich den ersten Karton öffnete, staunte ich nicht schlecht. Mir blitzte eine Revolver entgegen, anbei sogar ein paar Packungen Munition. Wenn die hier im Karton war... Wenn sie sich die Mühe gemacht hatten, sie einzupacken... Dann bedeutete das doch, dass sie sie für ihren Rundgang nicht benötigt hatten, oder? Dass alle vier bereits eine Schusswaffe bei sich hatten. Und die hatten sie nicht, als sie von hier aufgebrochen waren, nicht alle!
Mit großen Augen machte ich mich nun an die anderen Kartons, den Schwindel und die Übelkeit blendete ich nun dank der wachsenden Verwunderung und Neugier relativ gut aus. Hier und da waren Werkzeuge, dort noch eine Schusswaffe, zwischendurch einige Snacks, kleine Getränkeflaschen, noch mehr Werkzeuge. Nichts allzu Besonderes mehr, wobei ich den Erfolg zum Fund der Waffen niemals verschmälern würde.
Und dann kamen Nath und Svea mit einer kleinen Kettensäge und einem Brecheisen herein. Sie steuerten auf den Wintergarten zu, wollten die Werkzeuge womöglich in den Schuppen bringen. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte ich ihnen hinterher. DAS waren doch mal ansprechende Hilfsmittelchen! Das Brecheisen musste ich mir unbedingt genauer ansehen. Das konnte doch kein Zufall sein, dass es so ein beliebtes Tool in sämtlichen Horror- und Survivalgames war. Mein Golfschläger war super, um diese ekelhaften Fratzen möglichst weit weg von mir zu zerdeppern, zudem war er so ziemlich das letzte, was mir von meinem Vater geblieben war, allerdings war ich auch so ziemlich am Arsch, wenn ein solches Vieh schon innerhalb meines Schlagradiuses gedrungen war. So schnell konnte ich nicht auf mein Messer wechseln. Ja, dieses Brecheisen sollte ich mir wirklich genauer ansehen.
Jemand plumpste auf den Stuhl neben mir. "Meine liebste Kyra", fing meine beste Freundin an und ich schaute sie aufgrund der überschwänglichen Tonlage schon schief an, "liege ich richtig in der Annahme, dass diese beiden Goldlöckchen, die gerade raus gegangen sind, zusammen sind oder zumindest voll aufeinander abfahren?"
Unweigerlich legte ich die Stirn in meine Handfläche. Ich hatte gerade wirklich andere Sorgen als diesen Schwachsinn... Hatte sie wirklich das getan, von dem ich dachte, dass sie es getan hatte?
"Du hast nicht wirklich Nath angebaggert, oder?", seufzte ich und massierte mir die Nasenwurzel. Im Augenwinkel sah ich, wie sie die Unterlippe schmollend vorschob. "Dass du mich auch immer so leicht durchschaust!" Doch nur einen Augenblick später strahlte sie wieder ihr übliches ich-mische-mich-in-alles-ein-Lächeln. "Jedenfalls, natürlich habe ich das, der Blondschopf ist echt süß, aber ich habe dann aufgehört, weil ich von den beiden genau die gleichen besitzergreifenden Vibes empfangen habe, wie bei dir und dem supersüßen Sänger."
Ich zuckte zusammen und vergewisserte mich kurz, dass eben jener "supersüße Sänger" gerade nicht in der Nähe war, ehe ich zu ihr herüberzischte: "Zwischen mir und Lys läuft nichts!"
Laeti machte ein zustimmendes Geräusch, zog dabei allerdings sarkastisch die Augenbrauen in die Höhe. "Und warum flüsterst du das dann, Süße?"
Eine ausgesprochen gute Frage. Eine so gute Frage, dass ich es vorzog, nicht darauf einzugehen. Am besten schnell die Ruder herumreißen. "Jedenfalls", ich musste mich kurz räuspern, "um deine Frage zu beantworten: Nein. Sie sind nicht zusammen. Aber Nath steht auf Svea, das sieht sogar ein Blinder. Was mit Svea ist, da bin ich mir nicht sicher. Ich vermute zwar auch, aber... naja."
"Die Blicke, die sie mir eben zugeworfen hat, als ich ihn angeflirtet habe, waren auf jeden Fall hoch eifersüchtig!", lachte sie und mir war danach, sie zu boxen, weil ich nichts daran komisch fand.
"Meinst du nicht, dass wir grad größere Probleme haben als das Liebesleben anderer?"
Unschuldig schaute sie mich an. "Was denn für welche? Dein Bruder und die anderen sind zurück, wir haben genug Nahrung für ein paar weitere Tage und neue Waffen, ich denke, wir können jetzt ruhig an unserem persönlichen Wohlbefinden arbeiten." Keck zwinkerte sie mir zu. "Und wie du weißt gehören für mich süße Jungs und Tratsch dazu~"
John war zurück... Stimmt, er war zurück. Er war am Leben. Er war gerade irgendwo in diesem verfluchten Haus und wusch sich die furchtbaren Ereignisse der vergangenen langen Stunden vom Leib, doch er WAR hier und er lebte! Dann... Dann hatte Laeti Recht, oder? Dann... Dann hatten wir momentan wirklich keine akuten großen Probleme mehr. Nicht mehr, als die üblichen Apokalypsen-Probleme natürlich, aber mit denen hatten wir ja schon wohl oder übel halbwegs leben gelernt. Ich starrte Laeti an, ein wenig erschlagen von dieser Erkenntnis. Ein wenig erschlagen davon, dass sie mit ihrem Blödsinn tatsächlich mal Recht hatte. Nicht umsonst war diese Party für heute angesetzt. Unser aller persönliches Wohlbefinden konnte dringend eine Aufpolierung gebrauchen und nun, wo alles genau so war, wie die Blauhaarige es aufgezählt hatte... konnten wir uns das tatsächlich leisten. Richtig?
Für Laeti waren es süße Jungs und Tratsch... Und was war es für mich? Was wollte ich heute tun, damit ich mich endlich mal um mich selbst kümmern konnte? Damit es mir endlich wieder etwas besser ging?
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Endless Death
FanfictionZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...