Mit heruntergelassener Hose saß ich auf der Bettkante und dachte über das nach, was erst vor etwa einer halben Stunde passiert war, während mein Bruder meine Schusswunde begutachtete. Ich spürte noch immer die Nachwirkungen der tiefen Erschütterung, die ich empfunden hatte, als ich dieses kleine, aber sehr taffe Mädchen so am Ende all ihrer Beherrschung erleben musste. All diese Wut, diese Trauer, dieser Schmerz, dieses Leid in ihrem Gesicht hatten etwas tief in mir getroffen, mich an etwas tief Sitzendes erinnert, an das ich nicht erinnert werden wollte: Das unbeschreiblich schreckliche Gefühl des Verlustes und der Machtlosigkeit. Obwohl es wohl gänzlich unterschiedliche Situationen waren mit gänzlich unterschiedlichen Ursachen, wusste ich ganz genau, wie hundeelend sie sich gefühlt haben musste, als sich die Lage komplett ihrer Kontrolle entzog. Und dieses Gefühl wünschte man niemandem, nicht einmal einem ärgsten Feind. Sie tat mir unglaublich leid.
Johns Genuschel wurde lauter, sodass er mich zurück in die Realität holte. "Nun gut. Eine Steckschusswunde, verursacht von einem Projektil geringer Geschwindigkeit. Verfehlte anscheinend Knochen und wichtige Blutgefäße. Vollendete Hämostase mit Wundschorfbildung. Dunkelrote Färbung als Anzeichen der Zellneubildung. Beziehungsweise der Bildung des Granulationsgewebes. Bedeutet den Beginn der Granulationsphase. Als großflächigere Wunde dauert die Wundheilung wohl noch ein paar Wochen."
Er sprach mehr zu sich selbst als zu mir, wohl um eine Art imaginäre Liste Schritt für Schritt abzuhaken. Ich verstand ohnehin nur etwa die Hälfte von dem Fachwörterquatsch, den er so von dich gab.
"Hatte ich nun also Recht damit, dass alles okay ist und du dir keine Sorgen zu machen brauchst?"
Mein Einwurf holte ihn aus seiner medizinischen Trance und mit einem undefinierbaren Blick schaute er mich an. Es war selten, dass ich seinen Blick nicht deuten konnte. Doch meistens hieß ein undeutbarer Blick von ihm, dass er mir nicht die Genugtuung geben wollte, dass ich Recht hatte. So undefinierbar war dieser Blick also dann doch wieder nicht.
"Du hattest unverschämtes Glück", meinte der Braunhaarige streng. "Das Projektil zu entfernen hätte viel schlimmere Verletzungen hervorrufen können, als so schon. Außerdem hätte sich die Wunde böse entzünden und du einen septischen Schock erleiden können. Du hättest sterben können."
Bla bla bla. Genervt verdrehte ich die Augen. "Danke, das weiß ich schon von Nathaniel."
"Kyra!"
Schockiert sah ich meinen Bruder an. Sein Blick wurde weicher. "Ich möchte nur, dass du zukünftig vorsichtiger bist. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren."
Mein Gemüt fuhr wieder herunter. Er hatte ja Recht. Fehler waren dazu da, um aus ihnen zu lernen, und nicht um sie konsequent vergessen zu wollen.
John begutachtete noch einmal meine Wunde und schaute dann zur Tür. "Ich möchte die Wunde nochmal vorsichtig säubern und dann muss sie warm und feucht gehalten werden, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Ich werde mal eben nach Nathaniel suchen. Du bleibst bitte hier sitzen. Okay?" Er blickte mir in die Augen, bis ich ihm bestätigend zunickte. Als ob ich noch eine Wahl hätte.
John verschwand aus dem Zimmer und ließ mich zurück. Es wurde verdammt still. Unweigerlich musste ich wieder an Svea denken. An das schmerzverzerrte Gesicht, das sie gemacht hatte, als ihr innerer Vulkan ausbrach. Zuordnen konnte ich es nicht, aber ein Bedürfnis aus meinem tiefsten Inneren kroch an die Oberfläche, das von mir verlangte, ihr irgendwie zu helfen. Nur wie? Wie könnte ich ihr schon helfen? Ich wusste doch nicht einmal, was sie so mochte und was sie interessierte. Wie könnte ich einem Menschen, über den ich praktisch gar nichts wusste, helfen?
Ich erschrak abermals, als sich die Tür zum Zimmer öffnete. Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich zu dieser um. Das konnte unmöglich schon John sein, so lang war ich doch niemals in Gedanken versunken! Nach ein paar Augenblicken stellte ich jedoch fest, dass nicht der braune Schopf meines Bruders durch die Tür getreten war, sondern der Schopf mit dem unverwechselbaren silbernen Schillern meines besten Freundes. Eben jener schloss gerade die Tür, drehte sich um, ging wenige Schritte in den Raum hinein, erblickte mich und zuckte dann vor Schreck zusammen. Wie du mir, so ich dir.
"Kyra!", meinte er ganz erstaunt. "Tut mir leid, ich habe geklopft, ich dachte, es wäre niemand hier." Nun erkannte er, dass ich halb nackt auf dem Bett saß, woraufhin ihm eine leichte Röte ins Gesicht stieg und er den Blick abwendete.
"Tut mir leid", wiederholte der Silberschopf. "Ich warte draußen."
Er war schon drauf und dran wieder zu verschwinden, als ich rief: "Warte!" Er sollte nicht gehen. Nicht schon wieder. Eine altbekannte Angst machte sich in meiner Magengrube breit. Gerade noch hatte ich über sie nachgedacht, als ich mich mehr oder weniger mit Svea verglichen hatte. Die Angst des Verlustes. Eine in diesem Moment so dämliche und überflüssige Angst, da er schließlich nur dieses Zimmer verlassen würde, nachdem er kaum hier gewesen war. Doch... Ängste waren oft wenig rational.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich ganz automatisch eine Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Nun nahm ich sie wieder herunter und klopfte neben mir leicht auf das Bett. "Geh bitte nicht."
Lysander zögerte, eher er näher trat. "Bist du sicher? Du siehst ein wenig aus, als würdest du auf jemanden warten."
Irritiert legte ich den Kopf schief. Klar, ich wartete auf meinen Bruder, allerdings ließ mich das Gefühl nicht los, er wollte auf etwas anderes hinaus. Vor allem da er ja gar nicht wusste, dass ich eine Schusswunde hatte und deswegen hier halb nackt auf meinen Bruder wartend saß. Doch auf wen sollte ich sonst warten in einem Zimmer, das John, Castiel und ihm zugewiesen wurde?
"Ähm, ja, auf meinen Bruder."
"Du wartest halb bekleidet auf deinen Bruder?" Seine Stimme wurde eine Oktave höher. Ein sehr seltenes Phänomen, das in der Regel sein Entsetzen ausdrückte. An was dachte dieser Vollidiot denn bitte?!
Augen verdrehend drehte ich meinen Körper so auf dem Bett, dass er meine entblößten Beine sehen konnte und zeigte auf die Wunde. Ich wartete, bis er sich neben mich gesetzt und an meinem Bein erkannte, worauf ich gezeigt hatte.
"John ist oder war Medizinstudent, wie du weißt", erklärte ich ihm, bevor er etwas sagen konnte. "Er wollte sich unbedingt die Wunde ansehen und geht gerade Verbandsmaterial und so 'nen Kram holen. Währenddessen warte ich hier."
Meinem besten Freund war die Farbe aus dem Gesicht gewichen. Wehe, der wollte jetzt auch noch wie alle anderen so heftig auf diese dumme Wunde reagieren.
"Das sieht aus wie... eine Art Stichwunde."
"Schusswunde, um genau zu sein."
Mit ungläubigen Augen starrte er mich an. "Schuss??"
Obwohl ich nicht besonders Lust dazu hatte, erklärte ich ihm kurz, wie diese bei unser Flucht aus der Schule entstanden war, wie ich sie notdürftig selbst versorgt hatte, dass sie gut verheilte und auch, dass es mich mehr und mehr nervte, was für einen Wind die Leute darum machten, wenn sie davon erfuhren.
"Ich denke, du verstehst sehr gut, weshalb sich 'diese Leute' Sorgen um dich machen", meinte er lediglich dazu und schaute mich bedeutungsschwanger an. Ich seufzte. Ja, das tat ich. Das tat ich spätestens seit John mich vorhin indirekt darauf hingewiesen hatte. Insgeheim tat ich es wahrscheinlich schon viel länger. Es war nur... Es sollte nicht so sein. Ich wollte einfach nicht im Mittelpunkt stehen, ich wollte, dass die Leute sich Dingen widmeten, die weitaus wichtiger waren, als meine lächerliche, verheilende Wunde. Vor ein paar Tagen, als es wirklich nennenswert war, war niemand da, da war ich auf mich allein gestellt. Natürlich traf diesbezüglich niemanden die Schuld, das stand ganz außer Frage. Der Punkt war schicht und ergreifend: Jetzt war es nicht mehr nennenswert. Ich hoffte einfach, dass, nachdem John die Wunde neu verbunden haben wird, mich niemand mehr großartig darauf ansprechen würde. Ich wollte dieses Thema wirklich nicht wieder und wieder durchkauen.
Genervt legte ich den Kopf in den Nacken und schaute an die Decke. Strähnen, die sich aus meinem unordentlichen Zopf gelöst hatten, klebten mir im Gesicht. Ich strich sie zur Seite, schaute dann wieder nach vorne und nahm gedankenverloren eine dieser Strähnen zwischen die Finger. Mein schokoladenbraunes Haar störte mich. Mein Haar war mir nie sonderlich wichtig gewesen, vielleicht auch ein Grund, weshalb es mir mittlerweile bis zum mittleren Rücken reichte, aber nun störte es mich. Vielleicht sollte ich Sveas praktischem Beispiel folgen und sie von Patricia abschneiden lassen. Ha, ich wusste jetzt schon, wem das definitiv nicht gefallen würde.
Nach einigen Minuten kam dann auch John zurück, der meine Wunde sanft säuberte und fachmännisch verband.
"Bitte schon' dein Bein so viel es geht", riet er mir noch, während ich meine Leggings wieder anzog, und begann zu grinsen. "Also keine dreistündigen Dehnübungen oder Marathonläufe."
Wie witzig. "Ha. Ha."
Mein sarkastisches Lachen ließ ihn nur breiter grinsen. Wie schön, dass er seine gute Laune wiedergefunden hatte.
Zusammen mit meinem Bruder verließ ich das Zimmer. Lysander kramte sich sein Zeug zusammen, da er es beabsichtigte, duschen zu gehen. Er hatte den meisten anderen den Vortritt gelassen. Nun wurde das Bedürfnis danach wohl langsam doch zu groß. Wer sollte es ihm verübeln? Seine schillernde Haarpracht war wesentlich stumpfer und fettiger als sonst und dank fehlender Rasiermöglichkeiten war ihm ein silbriger paar-Tage-Bart gewachsen. Nicht, dass ihm das nicht stehen würde. Also, zumindest wenn er etwas gepflegter wäre. Was bisher nun mal nicht wirklich zu bewerkstelligen war. Vielleicht ja jetzt? Kaum zu glauben, dass er von allen Jungs, die ich bisher genauer betrachten konnte, mit den stärksten Bartwuchs besaß. Neben Castiel, wobei er seinen Ansatz von Bart bereits sehr früh nach unserer Ankunft bei den Jacotts vernichtet hatte und somit einen Tag weniger für einem konkreteren Vergleich hatte.
"Behälst du ihn?", fragte ich ihn, als er aus seinem Zimmer kam. Für ihn natürlich komplett kontextfrei, da er ja nicht wissen konnte, worüber ich gerade nachgedacht hatte.
Fragend sah er mich an. "Was meinst du?"
Ich fasste ihn am Kinn und kraulte sanft mit meinen Fingern durch seinen stoppeligen Bartansatz. "Deinen Bart."
"Möchtest du das denn?", fragte er mich und blickte mir tief in die Augen. Ein sonderbares Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus und ließ mich inne halten. Das fühlte sich komisch an. Das fühlte sich an wie... Strom. Ja, sonderbarer Strom. Strom, der sich nicht wie üblich negativ lähmend und schmerzvoll anfühlte. Eher aufputschend. Nur konnte ich nicht sagen, was genau es aufputschte.
"Ich schon, ja", antwortete ich nach einer Pause. "Es geht aber nicht darum, was ich möchte. Es ist dein Gesicht."
Ich entfernte meine Finger wieder und blickte den Flur entlang. Mein Zimmer lang in der entgegengesetzten Richtung, aber was sollte ich da wollen? Dabei fiel mir Moon wieder ein. Da sie nun fürs Erste draußen beziehungsweise im Wintergarten würde bleiben müssen, sollte ich nach etwas suchen, worauf sie sich legen und schlafen kann. Ob sie das, was ich ihr hinlegen würde, interessieren und annehmen würde stand zwar in den Sternen, weil... Katze. Doch versuchen könnte ich es zumindest. Sonst würde ich mir wahrscheinlich nur vorwerfen, nicht alles für Moon getan zu haben, dass ich hätte tun können. Blödes, hypnotisierendes Katzending.
"Ich begleite dich ein Stück", kündigte ich meinem besten Freund an, als ich mich entschied, Nathaniel zu suchen. Zwar war ich mir sicher, dass ich das, was ich für Moon brauchte, sicherlich ebenfalls auf dem Dachboden finden würde, allerdings wollte ich nicht ungefragt an irgendwelche Sachen rangehen, die gegebenenfalls sogar noch gebraucht werden könnten. Der Blondschopf hatte so wahrscheinlich schon alle Hände voll zu tun, besonders nach der Sache mit Svea und es tat mir jetzt schon leid, ihn - mal wieder - mit Belanglosigkeiten zu stören, doch so könnte ich ihn eventuell auch direkt mit fragen, ob und wie ich seiner Freundin zur Seite stehen könnte. Diese Frage konnte ich nach wie vor nicht entschlüsseln und solange mir das nicht möglich war, würde sie mich wohl auch nicht in Ruhe lassen. Und wer könnte mir diese Frage besser beantworten als der ihr wohl liebste Mensch? Svea hatte etwas an sich, das ich... beschützen wollte. Ja, das war, glaubte ich, das richtige Wort. Genauer benennen konnte ich es nicht. Huch, Überraschung, natürlich nicht. Gefühle beschreiben war schon immer schwer für mich gewesen und insbesondere jetzt seit der ganze Scheiß hier ausgebrochen war. Die einzigen, die ich gut beschreiben konnte, waren Angst und Schmerz. Sonderlich verwunderlich war das jedoch nicht. Die musste ich in jüngster Vergangenheit schließlich auch ein paar mal zu oft empfinden.
Eine Hand auf meiner Schulter holte mich auf den Flur der Tatsachen zurück. Lysander sah mich mitfühlend an. "Du bist sehr nachdenklich. Noch nachdenklicher als sonst."
"Gibt viel zu verarbeiten", seufzte ich. "Hast du das mit Svea mitbekommen?"
"Nein. Aber Castiel hat mir grob davon erzählt."
"Daran denke ich zum Beispiel. Sie hat mich irgendwie an mich selbst erinnert, obwohl mir so etwas zum Glück nie passiert ist. Ich würde ihr gern helfen, nur weiß ich nicht wie."
Der Silberschopf schwieg kurz, eher er antwortete: "Diese Absicht ehrt dich, Kyra."
Erneutes Schweigen. Dann: "Ich kenne Svea nicht besonders gut, aber ich denke, es wird ihr schon sehr helfen, zu wissen, dass es Menschen gibt, die ihr zu Seite stehen, ganz egal wer oder was passiert ist."
Seine Worte brachten mich ins Grübeln. War es wirklich so einfach? Doch wenn es so einfach war, wie zeigte man das der entsprechenden Person? Ich konnte doch schlecht zu ihr hingehen und etwas sagen à la "Ich stehe hinter dir". Das wäre äußerst eigenartig. Oder? Nein, das konnte ich nicht machen. Ich müsste mir etwas anderes überlegen.
Bevor Lysander und ich um eine Ecke im Flur biegen konnten, hinter der sich unweit das Badezimmer befinden würde, ließ mich ein Stimmengewirr unwillkürlich anhalten. Automatisch packte ich den Arm des Silberschopfs, der mich daraufhin irritiert betrachtete. Doch ich war bereits ganz auf die Stimmen fokussiert.
"... immer noch nicht glauben, dass sich Svea tatsächlich auf sowas eingelassen hatte. Kein Wunder, dass sie Nathaniel so am Rockzipfel hängt."
Wie bitte?
"Ich verstehe gerade ehrlich gesagt nicht, was du meinst. Sie hängt ihm am Rockzipfel?"
Diese Stimme kam mir schon bekannter vor, als die andere. War das Iris?
"Ja, siehst du das nicht? Ich wusste doch schon immer, dass sie etwas zu verbergen hatte. Sie sucht seit dieser Schande also Schutz bei Nathaniel und nutzte seine Stellung als Schülersprecher aus, damit auch ja niemand von ihrem Missgeschick erfuhr."
Wie bitte?!
"Melody, ich finde das nicht sehr nett, was du gerade Svea unterstellst. Sie trifft doch überhaupt keine Schuld."
"Sie hatte sich doch auf diesen Trottel eingelassen. Ich bin lediglich der Meinung, dass sie mit den Konsequenzen selbst hätte leben müssen, anstatt Nathaniel in die Sache mit rein zu ziehen."
WIE BITTE?!
"Hör auf, Melody. Jeder hätte in so einer Situation Hilfe gebraucht und Nath hat sich sicherlich aus ganz freien Stücken dazu entschieden, ihr zur Seite zu stehen. Ich finde, das war sehr nett von ihm. So etwas Schreckliches passiert leider den Besten."
"Wieso nimmst du sie auch noch in Schutz, nachdem sie so dumm war, so jemanden zu vertrauen und sich dann direkt Nath an den Hals zu schmeißen, der sie vor weiterem Übel beschützt?"
Nun platzte mir endgültig der Kragen. "WIE KANNST DU ES WAGEN?", schrie ich dieses Miststück an, direkt nachdem ich um die Ecke gerauscht war. Ja, tatsächlich. Sie war es. Diese Schnepfe, die damals in der Schule schon meinte, es in der Apokalypse als nötig zu erachten, sich wichtigtuerisch aufzuplustern wie ein eingebildeter, eifersüchtiger Pfau.
"Du sprichst von Dingen, von denen du absolut keine Ahnung hast und nimmst dir dann auch noch das Recht heraus, betroffene Personen zu verurteilen? Und dann auch noch für sowas zu verurteilen?"
Melody sah mich erschrocken an, erkannte mich dann wieder und zog die strengste Maske über, die sie in ihrem imaginären Schauspielkasten dabei trug.
"Du schon wieder? Hör' auf, dich in fremde Angelegenheiten einzumischen!"
Ich beschloss, ihren Schwachsinnseinwand zu ignorieren. "Du wagst es, Svea zu verurteilen, obwohl ihr etwas angetan wurde, das ihr sowohl körperlichen als auch psychischen Schaden zugefügt hat? Meinst du wirklich, sie war dumm, als sie der Person Vertrauen geschenkt hat, die sie geliebt hat? Meinst du wirklich, sie hat sich Nathaniel an den Hals geschmissen, als so ein dahergelaufenes Arschloch meinte, ihr wehtun zu müssen? Was genau willst du mit all dem eigentlich sagen? Dass Svea charakterschwach ist? Ein Flittchen? Gar jemand, der gar keine eigene Person ist, sondern lieber jemanden vor sich herschiebt und für sich machen lässt und sobald das mit dem einen nicht klappt, sich den nächstbesten greift?"
Ich redete so schnell und wütend, dass ich zu spät bemerkte, dass ich gar keinen Sauerstoff mehr in den Lungen hatte. Gezwungenermaßen musste ich durchatmen, doch möglichst kurz, damit Melody ja nicht zu Wort kam.
"Du solltest dich wirklich schämen. Wirklich richtig schämen. Man sollte den Menschen keine schlimmen Dinge wünschen, aber ich bin mir SEHR sicher, wäre dir sowas oder ähnliches passiert, du würdest nicht so große Töne spucken. Ich könnte schwören, du bist mal wieder nur scheiße eifersüchtig und suchst nach den winzigsten Gründen, die Freundin deines ach so geliebten Schwarmes niederzumachen. Lass, verdammt noch mal, endlich los!"
Wieder einmal musste ich tief durchatmen, ließ mir dieses Mal allerdings mehr Zeit, da ich zu einem Punkt gefunden hatte. Was ich dann in Melodys Gesicht erblickte, gab mir kurz eine gewisse Genugtuung. Sie war kreidebleich geworden. Jedoch nicht ganz aus dem Grund, den ich zunächst vermutet hatte.
"W-wie... seine Freundin?"
Ich hörte abrupt zu atmen auf. Ihre riesigen, angstvollen blauen Augen verursachten gegen meinen Willen ein mulmiges Gefühl in mir und Zweifel kamen auf. Es sollte mir sauer aufstoßen, dass sie scheinbar sonst nichts zum Rest zu sagen hatte, aber diese eine Frage, die mit dem Ganzen noch am wenigstens zu tun hatte, bremste mich aus. Wenn sie dem Blondschopf, ich sagte mal nachstellte, da mir dafür kein besseres Wort einfiel, dann müsste sie doch wissen, dass er in einer Beziehung mit Svea war, oder?
"Ja, Svea. Sie sind doch zusammen. Oder nicht?" Zweifelnd sah ich zu Iris hinüber, die nach wie vor neben Melody stand. Diese lächelte und schüttelte den Kopf. Wirklich jetzt?
"Oh..."
Was Schlaueres fiel mir in diesem Moment nicht dazu ein. Wie peinlich. Einen Augenblick später schüttelte ich dann wild mit dem Kopf. Das war doch auch gar nicht der Punkt!
"Es ist doch vollkommen egal, ob sie zusammen sind oder nicht! Es ändert rein gar nichts an dem, was ich gesagt habe!"
Melody sah mich mit zornigen Augen an, wandte sich ab und ging. Sie ging einfach! Wer war hier bitte charakterschwach?!
Wieder legte sich eine große Hand auf meine Schulter. Wütend blickte meinem besten Freund in die verschiedenfarbigen Augen, doch augenblicklich beruhigte sich mein Gemüt. Ich wusste gar nicht, wie angespannt ich war und bemerkte es erst, als ich unter anderem meine Schultern sinken ließ.
"Genau das ist es, was ich meinte mit 'jemandem zur Seite stehen, egal wer oder was passiert'", lächelte der Silberschopf mich an.
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Endless Death
FanficZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...