Kapitel 43 - Himmel oder Hölle - Kyra

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Theoretisch war alles in Boston schnell zu erreichen. Von der Privatschule oben in Fenway bis runter zum Haus der Jacotts dauerte es grob überschlagen eine halbe Stunde mit dem Auto. Wenn der Verkehr und die Ampelschaltung mit einem waren, natürlich. Wenn nicht, könnte es auch schon mal gut eine dreiviertel Stunde oder Stunde dauern. Doch auch das war nichts gegen die schwere Geburt, die wir derzeit mit unserem Weg dorthin hatten. Seit wir die Wohnung in Roxbury am Franklin Park verlassen hatten, ist nun schon knapp ein Tag vergangen und wir waren gerade einmal irgendwo an der Grenze von Roslindale und Mattapan. Das war vielleicht eine Strecke von fünf Kilometern Luftlinie! Und trotzdem hatten wir nach einem Tag noch immer fast zwei vor uns. Gut, wenn man aber auch schon am jungen Mittag auf das Dach eines Wohnkomplexes gezwungen wurde und dort bis in die Abendstunden ausharren musste, schaffte man natürlich nichts an Strecke. Und auch heute verwehrten uns Gruppen an Infizierten, ebenso wie Soldaten das lineare Weiterkommen. Immer wieder mussten wir ausweichen, uns einen anderen Weg suchen und es kam noch erschwerend hinzu, dass Dake und Viktor kein eigenes Gefährt besaßen und wir - mit unseren Motorrädern! - nur im Schritttempo vorankamen. Da kam mir die Strecke von Fenway bis zum Franklin Park, die ich wegen dem Militär innerhalb von gefühlt fünf Minuten zurückgelegt hatte, im Vergleich wie ein bloßes Wechseln der Straßenseite vor. Und diese Anspannung brachte mich noch um!
   "Es sind nur noch etwa vier Blocks um den Park dort herum", flüsterte Nathaniel und ließ mich aus meinen Grübeleien herausschrecken. Wir müssten schon eine Weile in Hyde Park sein, denn für diesen Stadtteil typisch reihten sich Ein- oder höchstens Zweifamilienhäuser mit großen Gärten und Villen aneinander wie Autos auf einem Parkplatz - in verschiedensten Varianten, aber gradlinig und systematisch. Als hätten wir eine andere Welt betreten, war es hier schon geradezu beängstigend ruhig. Nur vereinzelte Infizierte liefen herum, wenn überhaupt. Was für einen Sinn ergab das bitte? Als ob sich diese blutverschmierten Fratzen an Stadtteil-Grenzen halten würden!
   "Ich kann's kaum erwarten, wieder eine ordentliche Dusche zu sehen", brummte der andere Blondschopf sehnsüchtig. Ich hatte mittlerweile schon wieder vergessen, wohin sie ursprünglich auf den Weg waren, weil meine Gedanken zum größten Teil dem toten Jungen gewidmet waren, aber sie ließen sich schnell davon überzeugen, ihren Kurs zu ändern und mit uns zu gehen. Wahrscheinlich waren sie der Meinung, dass man in einer größeren Gruppe mehr erreichte.
   Nach einigen Minuten schob sich dann eine Villa in unser Sichtfeld, die all die vorigen fast schon blass aussehen ließ. Beziehungsweise waren hohe, massiv aussehende Mauern zu sehen, die sich um ein riesiges Grundstück säumten und so nur anhand des Daches die Villa erahnen ließen. Das gewaltige Tor erlaubte keinen Blick ins Innere. So etwas hatte ich noch nie gesehen, nicht einmal im kleineren Ausmaß, nicht einmal bei meinem Vater sah es so dermaßen geschützt aus.
   "Scheinen ja nicht so gern Fremde zu mögen, deine Familie", versuchte ich in Nathaniels Richtung zu scherzen und ging mit den anderen ein paar Schritte weiter, bis mir auffiel, dass der Blondschopf uns nicht mehr folgte. Verwundert drehte ich mich wieder um und entdeckte erneut diesen bedrückten Gesichtsausdruck, den er schon hatte, als er mir berichtete, wohin er und Castiel auf den Weg waren. Angespannt starrte er sein Elternhaus an.
   "Stimmt was nicht, Nathaniel?", fragte Viktor ruhig und monoton, bevor ich überhaupt auf die Idee kam, mich einzumischen.
   Der Junge mit den bernsteinfarbenen Augen druckste etwas herum: "Mein Vater und ich haben... nicht gerade das beste Verhältnis."
   "Seid ihr im Streit auseinander gegangen, bevor der ganze Scheiß hier ausgebrochen war, oder wie?", fragte Dake, scheinbar ohne darüber nachzudenken, dass Nathaniel womöglich gar nicht darüber reden wollte. So angespannt, wie er wirkte.
   "Kann man so sagen. Er ist, sagen wir mal, kein sehr netter Mensch."
   "Halt dein Maul, Blondi", grätschte Castiel in das Gespräch. "Dein Vater ist ein Arschloch, nicht mehr, nicht weniger." Dann wandte er sich auch schon ab und ging zum Tor. Perplex sah ich ihm hinterher, ehe ich ihm folgte. Ein Arschloch? Was genau bedeutete das? Dass er sehr streng war? Dass er emotional wie ein Eisblock war? Dass er ein Drogen- und/oder Alkoholproblem hatte? Dass er gewalttätig war? Es könnte alles mögliche bedeuten. Doch das "alles mögliche" erklärte zumindest, weshalb er so verstimmt wirkte und gewirkt hatte bezüglich seines Elternhauses. Eine richtige Wahl hatten wir trotzdem nicht wirklich...
   Nun standen wir alle gemeinsam vor diesem wuchtigen Tor aus Stahl. Es war zerkratzt und ein wenig verbeult, als hätte es schon viele Angriffe aushalten müssen, jedoch wies nichts darauf hin, dass diese auch von Erfolg gekrönt waren. Die Mauern um das Grundstück herum waren etwa zweieinhalb Meter hoch, normalgroße Menschen konnten sie also kaum aus eigener Kraft bewältigen. Stahlspitzen, Stacheldraht oder dergleichen besaßen sie allerdings nicht. Immerhin in dieser Hinsicht mal etwas „Normales".
   Nathaniel betätigte die Klingel am Tor. Einen Betätigungssound gab es nicht. Eine ganze Weile geschah gar nichts. Zwei weitere Male drückte der Blondschopf auf den Knopf. Unsicher schauten wir uns an und langsam begann ich daran zu zweifeln, ob dort drinnen wirklich noch jemand am Leben war.
   „Nath, hör mal... Vielleicht sind sie-"
   „Verschwindet von hier!", herrschte uns mit einmal mal eine Stimme durch den Lautsprecher an und ließ mich einen Schreckensschrei ausstoßen.
   „Vater?" Nathaniels Stimme klang ganz heiser. „Ich bin's, Nathaniel."
   „Das sehe ich! Verschwindet!"
   Mit tiefstem Entsetzen beobachtete ich, wie dem armen Jungen nun endgültig alles aus dem Gesicht fiel und blass wie die Wand wurde. Wie grausam konnte ein Mensch sein?!
   „Das ist noch immer unser Sohn, Frank, du kannst ihn nicht einfach da draußen lassen!" schrie nun eine weibliche Stimme durch den Lautsprecher. Wir horchten allesamt auf. „Lass ihn sofort herein!"
   „Mutter...", flüsterte der Blonde zittrig. Falls es einen Fortlauf des Gesprächs der beiden Unsichtbaren gab, hörten wir diesen nicht mehr. Nach kurzer Zeit öffnete sich dann aber doch das Tor. Rühren tat sich jedoch niemand. Alle blieben wie angewurzelt stehen, verunsichert und betrübt von dem Gespräch, dessen wir eben Zeuge wurden. Unterschlupf zu suchen, bei einem Mann, der nicht einmal seinen eigenen Sohn während einer Apokalypse hereinlassen wollte, behagte niemanden von uns.
   „Sehr gut, wenn ihr nicht wollt...", dröhnte erneut diese furchtbare Stimme durch den Lautsprecher und wie von der Tarantel gestochen sahen wir zu, dass wir hinter das Tor kamen. Kaum waren wir auch nur einen Meter in das Grundstück getreten, schloss es sich wieder mit einem lauten Rumms. Hinausschauen konnte ich nicht, aber ich war mir sicher, dass dieses Geräusch die wenigen Infizierten anlocken würde, die hier in der Gegend herumeierten. Um die würde ich mir aber erstmal keine Sorgen mehr machen müssen. Dafür allerdings um ein Wesen, das ein viel größeres Monster zu sein schien, als die Viecher dort draußen, die gar keine andere Wahl hatten.

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt