Ich konnte nicht fassen, dass das gerade wirklich passierte. Mit verräterisch brennenden Augen klammerte ich mich an den einzigen mir noch verbliebenen nahen Verwandten; so sehr, als hätte ich Angst, dass das alles nur ein Traum sein und er mir beim kleinsten Fehler wieder entgleiten könnte. Er lebte noch. Er lebte noch! Mein Bruder lebte noch. Ich konnte nicht klar denken. Er lebte noch.
Und nicht nur er. Sie alle lebten noch. Alle meine Freunden lebten noch. Meine tränenverhangenen Augen schweiften durch die Gruppe der Neuankömmlinge. Sie tummelten sich überwiegend um Nathaniel, dem die Verantwortung für die Gästezimmer-Verteilung übertragen worden war. Im Augenwinkel sah ich lediglich die eigentlich Mitverantwortliche mit ihrer schwarzhaarigen Freundin abzischen. Pures Unverständnis machte sich in meinem Kopf breit. Dass sie einfach abhauen konnte, ohne ihren EIGENEN Bruder auch nur zu begrüßen! Hatte sie sich denn überhaupt keine Sorgen um ihn gemacht? War deren Mutter die einzige ihrer Familie, die sich auch nur ein kleines Bisschen für diesen armen Jungen interessierte?
Am Rande der Gruppe erblickte ich seine Freundin. Svea, richtig? Sie stand dort, kreidebleich, und starrte den Blondschopf an, als könnte sie nicht glauben, dass er tatsächlich noch nicht von ihr gegangen war. Ich konnte dieses Gefühl so furchtbar gut nachempfinden...
Und dann sah ich ihn: Ebenfalls etwas abseits der Gruppe stand ein junger Mann mit dem silberfarbenen Haar, das mir so vertraut war wie kaum etwas anderes, und lag seinem besten Freund im Arm. So viel Bromance war zu viel für mein geschädigtes Herz. Tränen rollten stumm über meine Wangen. Wir waren alle wieder beisammen.
Ich sah gerade noch, wie Lysander den Mund bewegte und mit der Hand hinter sich zur Haustür zeigte, woraufhin der Rotschopf zügig in eben jene Richtung verschwand, bevor ich es langsam übers Herz brachte, mich von John zu lösen. Überwältigt von meinen Gefühlen sah ich ihn an. Er weinte. Mein Bruder weinte. Stumm und mit einem Lächeln, aber wann hatte ich ihn zum letzten Mal weinen gesehen? Als ihn seine damalige erste Freundin mehrfach betrogen und verlassen hatte? Das war schon mehr als vier Jahre her. Nicht sehr lang nach dem Unfalltod unserer Mutter war das. Das war wirklich keine leichte Zeit für ihn. Für niemanden von uns, aber das kam dann noch erschwerend für ihn hinzu. Er hatte so sehr gelitten, dass ich versucht hatte, den damals noch frischen Verlust eines Elternteils möglichst auszublenden und für ihn da zu sein. Nichts verachtete ich mehr als die böswillige Verletzung eines geliebten Menschen. Er hatte es mir nicht gesagt, aber das schien er sich nie verziehen zu haben. Nach dieser Sache war er immer überaus bemüht darum, seine Rolle als großer Bruder einzunehmen und für mich da zu sein. Für uns alle.
Sanft lächelnd wischte ich ihm eine Träne von der Wange. "Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Du hast mir gefehlt..."
Alles war vergeben. Dass er unseren Vater erschossen hatte; Er war leider so oder so dem Tode geweiht, ihn zu erschießen war die einzige Möglichkeit, ihn vor weiterem Übel zu bewahren.
Dass er Lysander Vorwürfe des Übergriffes gemacht hatte; Er war der große Bruder, der sich geschworen hatte, mich zu beschützen - die Rest Familie, die er noch hatte, und sollten die Gefahren noch so unwahrscheinlich sein. In seiner Haut hätte ich womöglich nicht groß anders reagiert.
Dass er mir so auf die Eier gegangen war, um sich mir zu erklären und dabei den Blick für die gesamte Gruppe vernachlässigte; Der dämlichste Grund, sich ihm scheiße gegenüber zu verhalten. Natürlich wollte man mit sich selbst und dem Zerstrittenen wieder ins Reine kommen. Da war wohl eher ich vor etwas davongelaufen, als dass es sein Fehler gewesen wäre.
John nahm mich nochmals in die Arme. "Du mir erst. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Das tut mir alles so leid, Kyra."
Hatte er meine Gedanken gelesen? Wobei, dann müsste er ja wissen, dass ich ihm vergeben hatte.
"Vergeben und vergessen, Hauptsache du bist wieder da", versicherte ich und löste mich widerwillig von ihm. Wir sollten nun langsam zusehen, dass alle in ihre Zimmer und zur Ruhe kamen. Ich wollte wirklich daran glauben, dass wir uns von jetzt an in so großer Sicherheit wiegen konnten, dass wir noch viel Zeit haben würden, ausführlicher miteinander zu sprechen.
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Endless Death
Fiksi PenggemarZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...