Kapitel 23 - Die Macht der Musik - Kyra

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Mit den Beinen über die eine Lehne und den Rücken an der anderen, saß beziehungsweise lag ich schon fast auf dem Sessel und kritzelte in meinem Collegeblock herum. Meine Augen huschten immer mal wieder über den oberen Rand zu der jungen Frau, die mir gegenüber in einem anderen Sessel saß und schon seit einer gefühlten Ewigkeit still hielt. Der Bleistift in meiner Hand zog gerade die Linien einer vereinfachten Version ihres Outfits. Oder versuchte es eher. Ich war noch nie eine große Zeichnerin. Es sah meist annehmbar aus und das war's. Ich tat es auch nicht sehr oft. Aber jetzt war mir danach und ich brachte Pia in Chibiform aufs Papier. Obwohl Chibi-Pia lachte, sah es ein wenig trist aus, da Chibi-Pia nur grau vom Bleistift war. Aber ich war schon froh, überhaupt etwas zum Schreiben (und Zeichnen) hier zu haben. Buntstifte gehörten ja nun nicht zwingend zu den Materialien, die man in ein Survival-Paket stecken würde. Obwohl... moralisch gesehen... Für manche war es vielleicht doch irgendwie überlebenswichtig...
   Ich war gerade mit den Augen auf dem Papier, als ich meine braunhaarige Freundin auf einmal "Wow, wer bist du und was hast du mit Svea gemacht?" sagen hörte. Neugierig blickte ich auf und in die Richtung, in die Pia sah. Okay. Ja. Wenn sie keinen Namen genannt hätte, hätte ich die Person dort an der Tür bestimmt nicht wiedererkannt. Es fiel mir ja selbst mit diesem Wissen schwer - was wohl daran lag, dass ich die Blondine praktisch gar nicht kannte. Wir hatten nur einmal wirklich miteinander gesprochen, selbst gesehen konnte man gewiss noch an einer Hand abzählen. All das aber änderte nichts an der Tatsache, dass ihr die kurzen Haare so gut standen, wie es auch die langen getan hatten.
   Svea strich sich mit den Fingern hinters Ohr, sich wohl bewusst werdend, dass sie gar nicht mehr die Haare dazu hatte, diese hinters Ohr zu streichen. Irgendwie sah das schon witzig aus, sie bei einer typischen Handbewegung zu beobachten, die gar keinen Sinn mehr hatte.
   Ich riss Chibi-Pia aus meinem Collegeblock, packte meine Sachen zusammen, kämpfte mich vom Sessel und reichte das Bild der Original-Pia. Sie gab ein leises, verzücktes Geräusch von sich und bedankte sich. Ich lächelte nur, ehe ich mich in Bewegung setzte, diesen "Pausenraum" zu verlassen.
   "Ich habe dich doch nicht verscheucht, oder? Du musst doch nicht gehen", meinte die Blondine, die fast einen ganzen Kopf kleiner war als ich selbst, verwirrt. Dieser Größenunterschied war mir bis jetzt noch gar nicht wirklich aufgefallen, stellte ich erstaunt fest.
   "Alles gut. Ich war eh fertig. Ich muss nur mal eben frische Luft schnappen."
   Ich war schon an der Tür, als mir Pia nochmal etwas hinterher rief: "Bleib' nicht wieder so lange weg, ja? Wir wollen nachher etwas zusammen spielen, da musst du mit machen! Außerdem sah es eben sehr nach Regen aus."
   Wie konnte sie das rufen und gleichzeitig ihre so typisch sanfte Stimme beibehalten?
   Ich wollte noch etwas erwidern, doch die Antwort, die mir bereits auf den Lippen lag, blieb auch genau dort, da mich jemand von hinten anrempelte. In diesen Moment war ich also etwas mehr damit beschäftigt, nicht auf den Boden zu fallen.
   "Mensch, kannst du nicht aufpassen?!", keifte mich ein anderen blondes Mädchen an, wobei sie scheinbar ganz außen vor ließ, dass sie in mich reingelaufen war und nicht andersherum. Dahingestellt sei, dass ich mitten im Weg stand, aber ich konnte meine Augen ja nicht überall haben.
   Während mich also dieses blonde Mädchen anmeckerte und mit ihren strahlend grünen Augen Blitze auf mich warf, stand ich ruhig da und betrachtete sie. Sie war ein Stück kleiner als ich, aber sie strahlte etwas aus, das sie größer wirken ließ. Ob es etwas Gutes oder Schlechtes war, konnte ich schwer sagen. Ich kannte sie ja nicht. Ihr Schönheitsfleck unter ihrem, von ihr aus gesehen linkem Auge zitterte leicht unter ihren wütend bebenden Lippen, was irgendwie schön aussah. Ihr seidig goldenes Haar und diese glänzend jadegrünen Augen standen in einem angenehmen Kontrast zu ihrer hellen Haut. Geschminkt war sie nicht, aber das hatte sie auch nicht nötig. Jetzt ohnehin nicht mehr.
   "Du bist ziemlich hübsch", meinte ich zwischen zwei Atemzügen von ihr und sie verstummte abrupt. Mit großen Augen sah sie mich an und ich erwiderte diesen Blick ein paar Sekunden ohne die Regung einer Emotion. Dann ging ich an ihr vorbei und verließ endgültig diesen Abschnitt der Schule.
   Ich wollte wirklich frische Luft schnappen, am liebsten einen kleinen Spaziergang machen, doch als ich am Haupteingang (oder Ausgang) stand, sah ich, wie es bereits in Strömen regnete. Der Wind brauschte fast schon brutal durch die Baumkronen und den Hof und ich hielt es nur wenige Minuten unter dem Unterstand der Tür aus, ehe ich auch schon wieder reinging. Ich mochte den Regen, mochte ihn schon immer. Aber ohne Jacke, ohne Schirm oder sonstiges würde ich nur eine Erkrankung provozieren. Als ob ich hier nicht schon genug eingeschlossen wäre. Ich musste nicht auch noch durch meinem eigenen Körper eingeschränkt werden.
   Ohne Ziel vor Augen streifte ich durch die erschreckend leeren Flure des Untergeschosses, meinen rechten Arm angehoben, da ich Spawner in meinem Ärmel herum transportierte. Sein Rattenschwanz schaute sogar vorne heraus. Ich konnte nicht sagen, was er wohl fühlen mochte, aber um die Wärme, die ihn sicherlich umgab, beneidete ich ihn. Ich beneidete eine Ratte. Wow...
   Als ich das nächste Mal bewusst meine Umgebung wahrnahm, befand ich mich vor einer verglasten Tür. Der Raum dahinter war sehr groß, an den langen Seiten standen dutzende Stapel Stühle, an einer der kurzen Seiten befand sich eine Bühne. Die Aula wahrscheinlich. Meine größte Aufmerksamkeit erregte aber der große Flügel, der ein paar Meter vor der Bühne stand. Er hob sich deutlich vom Rest ab, stand da wie erhaben. So erhaben, wie es ein Gegenstand nun mal sein konnte.
   Vorsichtig drückte ich die große Tür auf und betrat den Raum. Erst nachdem die Tür mit einem dumpfen Knall wieder zugefallen war, überkam mich die absolute Stille, die in diesem Gebäude herrschte. Denn nun hallten nicht einmal mehr meine Schritte durch die Flure. Es war geradezu gespenstisch. Und obwohl mich gespenstische Stille sonst in Unruhe versetzen würden, hieß ich sie dieses Mal willkommen. Ja, ich genoss sie regelrecht. Hier bewegte sich nichts. Hier war alles zum Stillstand gekommen.
   Bedächtig, fast schon ehrfürchtig stieg ich  die wenigen Treppen herab, die an der Bühne grenzten, und schritt auf den Flügel zu. Mit den Fingern fuhr ich sanft drüber, hinterließ schwarze Rillen in der dünnen, grauen Schicht. Welch eine Schande... Erst dann klappte ich den Tastenschutz auf und setzte mich auf den Hocker, setzte meine Ratte oben drauf und überprüfte, ob alles auch richtig gestimmt war. Ich fühlte mich ein wenig wie in eine Klischee-Rolle versetzt. Ein einsames, trauriges Mädchen saß ganz allein in einem riesigen Raum mit praktisch nur einem riesigen Flügel drin und spielte die traurigste Melodie, die ihr einfiel.
   Es hielt mich nicht auf, meine Finger so über die Tasten gleiten zu lassen, dass die Melodie von "River flows in you" erklang. Noch klischeehafter ging's wirklich nicht mehr, aber mein Kopf wollte auch partout nichts anderes spielen. Ich verlor mich in den Klängen, dem Rythmus, der Musik, bis auch das letzte Bisschen, was sich vielleicht in diesem Raum bewegt haben mochte, zum Erliegen kam. Es gab nur noch mich und die Melodie. Mich und die Musik. Alles andere hatte keine Relevanz mehr. Nichts, nicht einmal die Zeit.
   Es wirkte wie eine endlose Ewigkeit, in der ich da saß und im Fluss der bedeutungsschweren Noten mitschwamm und trotzdem war ich viel zu schnell am Ende des Liedes angelangt. Die letzten Töne verklangen langsam im Saal, während ich wie in Trance auf die Tasten starrte. Mein Blick wurde immer trüber und ich hatte das Gefühl, gleich weinen zu müssen, ohne wirklich zu wissen, warum. Ich fühlte mich... merkwürdig. Irgendwas zwischen befreit und bedrückt. Als würde man schweben und nicht wissen, ob man versuchen sollte, höher zu fliegen oder Angst vor einem etwaigen Absturz haben sollte.
   "Oh, wow. Bei dem ganzen Melodrama hier bekomme ich ja glatt Depressionen."
   Erschrocken drehte ich mich um und direkt stach mir rotes Haar ins verschwommene Sichtfeld. Ich musste ein paar Mal blinzeln, ehe ich wieder scharf sah. "Castiel?"
   "Wie er leibt und lebt. Jedenfalls noch", entgegnete er und näherte sich mir. Indem er mich fast schon schubste, verschaffte er sich Platz auf dem eh schon nicht so riesigen Hocker. Ich musste echt aufpassen, nicht herunterzufallen. Fiel mir nicht ein, ihm einfach so Platz zu machen.
   "Jetzt hör gut hin", animierte mich der Rotschopf und hielt mir bedeutungsvoll den Zeigefinger vor die Nase. "Ich kann auch Klavier spielen!"
   Sein Zeigefinger landete auf einer Taste nach der anderen und zwar konnte man nicht behaupten, er würde keine Melodie spielen, aber was er da spielte, brachte mich zum Lachen. Ich lachte. Wirklich, ernsthaft, herzlich. Ich dachte schon, ich hätte dieses Lachen verlernt, obwohl ich es vor wenigen Wochen noch so gern praktiziert hatte. Weil ich mich dadurch so lebendig gefühlt hatte. Und jetzt... gab ich meinen Schwebe-Modus auf und versuchte, höher zu fliegen.
   "Lachen kann sie also doch noch. Ich hatte schon fast Angst, die Kyra, die ich kenne, sei durch 'nen Roboter ausgetauscht worden", grinste er, nachdem er seine wundervolle und professionelle Show von "Alle meine Entchen" beendet hatte.
   Ich fächelte mir Luft zu, versuchte die Tränen in meinen Augen zu trocknen, die sich vor Lachen gebildet hatten. "Och Gott, Castiel, mach doch sowas nicht", kicherte ich dabei.
   "Warum nicht? Sag bloß, du hast was gegen Dopamin."
   Ganz und gar nicht... Aber Castiel klang dabei geradezu erschreckend ernst, dass das schon wieder lustig war. "Dopamin? Pah, dass du sowas kennst, du Streber! Ich wusste, du tust immer nur blöd."
   Jetzt sah mich der Rothaarige beleidigt an. "Was soll das denn bitte heißen? Nur, weil ich es nicht so raushängen lasse, wie der idiotische Super-Streber Nathaniel. Ich bin empört, meine Liebe, empört!" Theatralisch fuchtelte er mit den Händen. Ich verzweifelte gespielt. "Nein, bitte! Es tut mir leid, Rotkäppchen, eigentlich wollte ich Eure Großmutter nicht fressen!"
   Er stoppte mitten in seinen fuchtelnen Bewegungen und sah mich merkwürdig an. "Was?"
   "Was?"
   "Was?"
   "Ich weiß doch auch nicht", gab ich auf und lachte.
   "Du bist echt 'ne Spinnerin", meinte Castiel mit hochgezogener Braue, aber einem Grinsen im Gesicht. Ich erwiderte diesen Blick. "Musst du grad sagen."
   Wir sahen uns einen Moment schweigend an. Seine sturmgrauen Augen verschlossen mir die Sicht auf sein Innenleben. Ich konnte demnach nicht genau sagen, was in ihm vorging. Was es aber nicht weniger dankenswert machte, dass er alles versuchte, mich aufzumuntern. Und da fiel mir die Situation von vorhin wieder ein.
   Ich seufzte. "Das von vorhin tut mir übrigens leid. Ich weiß, du wolltest helfen, aber... es ist alles so... ach man." Mein Blick schweifte über den Flügel in den leeren Saal. Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie er den Kopf schüttelte.
   "Passt schon", meinte er. Dann spürte ich, wie er mir eine Hand auf den Kopf legte und mein Haar grob verwuschelte.
   "Ey...", brummte ich, doch er überging das einfach.
   "Ich kann das verstehen. Nach dem was John hat durchsickern lassen. Ich würd's ja nicht zugeben, aber könnte sein, dass ich vielleicht auch 'n bisschen taktlos war. Wer weiß."
   Ich sah ihn an, doch er vermied meinen Blick. Möglichst unauffällig, als würde er nur nicht merken, dass ich ihn ansah, aber ich konnte sehen, dass er es trotzdem bemerkte. Mir war klar, dass er richtig nett sein konnte, aber tatsächlich überraschte es mich jedes Mal wieder ein bisschen.
   Ich schlang meine Arme um seinen Körper und drückte mich an ihn. Seine Körperwärme war beruhigend, beruhigender als ich erwartet hätte und er gab einen protestierenden Laut von sich, den ich dieses Mal einfach überging. "Danke, Castiel...", murmelte ich stattdessen und spürte, wie er sich etwas entspannte. Wieder fiel mir auf, wie schwach ich war. Scheinbar konnte ich es nicht ablegen. Scheinbar war ich schlicht und ergreifend schwach. Aber wieso machte es mir weniger aus, dass Castiel mich so sah, als wenn Lysander es tat? Wieso hasste ich mich so viel mehr für meine Schwäche, wenn Lysanders heterochromale Augen mich betrachteten und nicht, wenn diese sturmgrauen es taten? Sie waren schließlich beide meine Freunde. Sie bedeuteten mir beide viel. Worin lag also der Unterschied?
   "Lys hat dich übrigens gesucht."
   Bei seinem Namen zuckte ich wie ertappt zusammen. Wenn man vom Teufel sprach... naja, eher dachte. Und eher Engel. Wenn man vom Engel dachte. Okay, das hörte sich jetzt merkwürdig an.
   "Weswegen?", fragte ich auffällig zögerlich und räusperte mich direkt, um einen Frosch im Hals vorzutäuschen. Falls der Rotschopf das gecheckt haben sollte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
   "Keine Ahnung. Er schien aber nachdenklicher als sonst. Könnte also wichtig gewesen sein." Er zuckte wie unbeteiligt mit den Schultern und ich löste mich von ihm. Ein unangenehmes Gefühl kroch mir den Rücken runter. Es war ja schon schlimm genug, dass Lys mich in diesem miserablen Zustand gesehen hatte - wollte er mich nun wirklich auch noch darauf ansprechen?
   "Dann sollte ich ihn vielleicht mal suchen...", log ich murmelnd und stand auf. Das brauchte ich gerade echt nicht. Aber das musste Castiel ja nicht wissen. Wobei er mir wahrscheinlich eh an der Nasenspitze ansah, dass da was nicht stimmte. Ich war nun mal eine sehr schlechte Lügnerin.
   Ich klappte den Tastenschutz runter, schnappte Spawner und ging mit dem Rotkäppchen zurück zur Tür. Dort bedankte ich mich noch einmal bei ihm für seine Hilfe, welche er nur augenverdrehend abwinkte. Ich nahm an, in Castiel-Sprache hieß das "Ja, ich weiß, ich bin viel zu gut für diese Welt, aber es ist nicht nötig, mir das ständig zu sagen. Bescheidenheit in Person und so". Das ließ mich kurz lächeln.
   Bereits von ihm weggedreht, fiel mir dann aber noch was ein. "Sag mir nachher mal Bescheid, wenn du 'ne Runde mit Demon drehst, ja?"
   Dann war ich auch schon weg, ohne auf eine Antwort zu warten. Das Lächeln auf meinen Lippen erstarb, als ich realisierte, dass ich nun wieder allein war. Und mir sowohl das, als auch der Gedanke an Gesellschaft, insbesondere einer bestimmten Person, Unbehagen bereitete. Mir war wirklich nicht mehr zu helfen...

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt