Es machte mir schon ein bisschen Angst, wie ruhig es hier war. Wie weit war es schon gekommen, dass ich immer Angst hatte, egal, wo wir waren, ob wir angegriffen wurden oder selbst dann, wenn dies eben nicht der Fall war? Früher war ich oftmals einfach nur glücklich darüber, meine Ruhe zu haben. Nun wirkte die Stille erdrückend und wie die allbekannte und heimtückische Ruhe vor dem Sturm.
Im Augenwinkel erkannte ich die blauen Haare meiner besten Freundin, die sich mehr und mehr in mein Sichtfeld schoben. Sie blickte auf einen sehr niedlich dekorierten und eines der wenigen wirklich alleinstehenden Friseurläden Bostons. Gut, dieser Teil Bostons war nicht ganz so verbaut, aber ein Einfamilienhaus oder ein Geschäft ohne Wohnungen darüber war dennoch ein eher seltenes Bild. Es befand sich circa 50 Meter, vielleicht auch mehr, vor uns auf der anderen Straßenseite. Aus unser Deckung heraus konnte ich nicht viel mehr erkennen, als die in überwiegend Rosa gehaltene Deko im Schaufenster, aber das musste nichts heißen. Rot unterschied sich nun nicht sooo sehr von Rosa.
„Laeti? Du weißt... Es könnte sein, dass du dort drin nichts finden wirst. Oder... dass du etwas findest, was dir nicht gefallen wird. John und ich können gern vorgehen und nachschauen. Warte einfach hier."
Entschieden schüttelte meine Freundin den Kopf. „Nein. Ich hab mich schon lange genug hinter euch versteckt. Ich brauche Gewissheit. Jetzt, sofort."
Ich versuchte gar nicht erst, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen. Ich verstand sie durchaus. Also nickte ich mit einem „Okay" und griff dann zu meinem Waffenholster, überreichte ihr meine Waffe. Ungeschickt hielt sie sie fest und sah mich mit großen Augen an. Während ich ihr zeigte, wie sie sie zu halten hatte, erklärte ich leise: „Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, sich im Nahkampf zu wehren. Nichts für Ungut, aber du bist noch schwächer als ich. Du musst dich aber irgendwie verteidigen können, also tue mir bitte den Gefallen und stirb nicht. Schau, so musst du sie halten. So entsicherst du sie, du hörst dabei dieses Klacken..."
Als ich der Meinung war, sie könne mit der Waffe zumindest so gut umgehen, dass sie würde abdrücken können, schnappte ich mir meinen Golfschläger und deutete meinen Mitstreitern, sich in Bewegung zu setzen. Wir schlichen aus der Seitengasse heraus, an der Hauswand entlang und inspizierten die Straße, die wir überqueren mussten. Als wir – ich wusste es nicht, glücklicherweise? Eher beunruhigenderweise – keine Infizieren ausmachen konnten, huschten wir rüber. Nun ging Laeti vor, in beiden Händen die Waffe und sah dabei fast wie eine Agentin aus, frisch einem Film entsprungen. Wenn diese Angst nicht wäre, die sich deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete.
Direkt vor dem Friseurladen offenbarte sich das ganze Ausmaß dessen, was hier passiert war. Nicht. Denn der Eingang war verbarrikadiert, und auch hinterm Schaufenster mit der fast zu unschuldigen Dekoration konnte man nichts entdecken. Der Laden war komplett blickdicht. Selbst wenn der Laden zu normalen Zeiten nur geschlossen war, war er nicht so blickdicht. Jemand hatte sich also die Zeit genommen, sich vor den Blicken von außen zu schützen. Und das wiederum weckte die Hoffnung, dass dieser jemand noch am Leben war.
„MAMA?!", rief auf einmal Laeti, klopfte gegen die Tür und mir blieb das Herz stehen.
„Spinnst du jetzt vollkommen?!," zischte ich ihr entgegen, blickte panisch um mich. Als es mehrere Sekunden vollkommen still blieb, beruhigte ich mich wieder minimal. Ich haute ihr die Faust in den Arm. „Du kannst hier doch nicht so herumschreien! Du wirst nicht glauben, wie schnell man auf einmal tot sein kann!"
Ich wollte das eigentlich nicht so direkt sagen, aber die Angst stemmte meinen Mund auf und ließ diese Worte einfach so heraussprudeln. Und es war nun mal die Wahrheit. Das musste ihr auch mal klar werden. Die unbeschwerte Zeit war ein für alle mal vorbei.
Als ihr Blick den meinen traf, verpuffte meine Wut. In ihren Augen spiegelte sich pure Verzweiflung, ich hatte Angst, sie würde mir hier gleich einfach zusammenbrechen. Mein schlechtes Gewissen klopfte an der Tür.
Tief atmete ich durch. Sich aufzuregen brachte jetzt wirklich nichts. „Hier kommen wir nicht rein, ohne brutal einzubrechen. Gibt es einen Hintereingang? Obwohl der sicherlich dann auch blockiert sein wird."
Letztendlich blieb uns nichts anderes übrig, als es trotzdem zu probieren. Wie erwartet war aber auch diese Tür nicht, ohne einen Heidenlärm dabei zu veranstalten, zu öffnen. Dann riss Laeti der Geduldsfaden.
„Mir reicht's! Ich werde nicht gehen, bevor ich da drin war! Tut mir leid, Kyra."
Besonders von meinem Namen alarmiert, versuchte ich die Blauhaarige von den abzuhalten, was sie vorhatte, ohne auch nur den blassesten Schimmer zu haben, was das überhaupt sein könnte, aber da hatte sie sich bereits einen großen Stein gegriffen und schlug ein Fenster ein. Es war natürlich nicht so ein leises Zerbersten von Glas, wie man es oft in Filmen sah, nein, man höre es bestimmt noch ein, zwei Straßen weiter! Zumindest kam es mir so vor, was auch am extremen Anstieg meiner Geräuschempfindlichkeit seit wenigen Wochen liegen könnte. Ich spürte, wie die Panik wieder aus den dunklen Ecken in mir heraufkroch; schleichend, bedrohlich.
„Laetitia!", fuhr John sie an, erschüttert über ihr leichtsinniges, egoistisches Verhalten. Doch das schien sie einen Dreck zu kümmern. Sie packte ihre Jacke über die scharfen Glasreste am Fensterrahmen und stieg über diese in die Räumlichkeit. Mein Bruder und ich sahen uns zweifelnd an und stiegen ihr dann nach.
Im Laden war es dunkel, aber hell genug, wenige Meter weit zu sehen. Ich konnte schwach eine rechteckige Silhouette vor dem Haupteingang sehen. Scheinbar hatte jemand einen Schrank gegen die sich nur nach innen zu öffnenden Tür geschoben. Schwer aussehende Vorhänge verdeckten nun die Auslage des Schaufensters, sie ließen nur wenig Tageslicht durch ihre Fasern hindurchdringen. Auch vor die Hintertür, die sich neben dem nun kaputten Fenster befand, war etwas Schweres geschoben worden. Abgesehen vom Salon, der den größten Teil des Friseurladens ausmachte, gab es noch ein Bad und einen kleinen Aufenthaltsraum mit einer noch kleineren „Küche". Wenn ich aber nicht schon ein paar Mal hier gewesen wäre, könnte ich wohl nicht mal erahnen, dass diese Extra-Räume existierten, geschweige wo sie sich befanden.
Leise tasteten wir uns in den Raum, niemand sagte mehr etwas, nicht einmal Laeti, sondern horchten angestrengt nach dem auch nur leisesten Geräusch. Aber nichts. Es war totenstill. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Denn es gab keine Anzeichen dafür, dass dieser Laden verlassen werden konnte, ohne irgendwelche der Barrikaden zu lösen.
„Leute, ich glaube nicht-" Mein Geflüster wurde jäh von einer anderen Stimme unterbrochen: „Stehen bleiben!"
Wie paralysiert gehorchten wir. Vor uns im Dunkeln stand eine Person, der Stimme nach zu urteilen weiblich. Sie hielt irgendwas, was ich nicht richtig deuten könnte, wenn die Körperhaltung nicht verräterisch „WAFFE" rufen würde.
„Hier gibt's nichts zu holen. Geht wieder!", befahl die Frau, ihre Stimme zitterte, das war nicht zu überhören. Und es war auch nicht zu überhören, wem diese Stimme gehörte.
„M-Mama?" Auch Laetis Stimme zitterte.
„Laetitia? Liebling? Bist du das wirklich?"
Meiner blauhaarigen Freundin entfuhr ein Schluchzen. „Ja, Mama."
„Oh Gott. Liebling. Mein Liebling! Dir geht es gut!"
So schnell konnte ich gar nicht gucken, da lagen sie sich schon in den Armen, weinend, voller Erleichterung. Ein kurzer Moment der Freude überkam mich, diese Wiedervereinigung schaffte es, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Ein merkwürdiges Gefühl, nach so langer Zeit mal wieder zu lächeln. Es fühlte sich sehr viel befreiender an, als zu nicht-Epidemie-Zeiten. Ich wünschte, ich hätte mehr Gründe, mal zu lächeln...
„Das war schon das zweite Mal heute, dass jemand eine Waffe auf mich richtet", heulte Laeti mit einem Lachen.
„Was?!" Ihre Mutter fand das wohl eher weniger lustig. Sie fasste sie an den Schultern und sah sie an. „Wer hat auf dich gezielt?!"
Die Blauhaarige schaute über die Schulter in unsere Richtung, bevor sie antwortete: „Kyra. Sie hatte mich für einen Zombie gehalten."
„Kyra? Du bist das?"
Ich merkte erst jetzt, dass sie uns noch gar nicht wirklich beachtet hatte. Wären dies andere Zeiten, wäre ich schon fast beleidigt.
„Ja. Und John ist auch da."
„John...", wiederholte sie langsam, als könnte sie nicht begreifen, dass wir wirklich hier waren. Ich konnte auch nicht begreifen, dass sie wirklich hier war. Am Leben war.
„Oh, ich freue mich so, dass ihr hier seid!"Die nächste Stunde brachten wir damit zu, etwas Licht ins Dunkeln zu bringen, etwas vor das kaputte Fenster zu schieben und uns ausführlich zu unterhalten. Laeti und ihre Mutter klebten dabei praktisch aneinander. Sie sah mitgenommen aus. Die Wochen des Ausharrens hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihre Haut war etwas eingefallen und blass. Die Haare waren fettig und man sah ihr an, dass sie nicht viel gegessen hatte. Sie hatte von irgendwo her ein paar Vorräte und hatte sich dann in ihrem Laden verbarrikadiert, zu groß war ihre Angst vor dem, was auch immer diesen Ausnahmezustand ausgelöst hatte. Laetis Mutter war schon immer eher ängstlicher Natur. Die angebliche Waffe, die sie auf uns gerichtet hatte, war auch nur eine Attrappe, von der sie hoffte, dass sie andere abschrecken würden, die versuchten, in ihren Laden einzubrechen. Aber es gab keine anderen, bis auf uns. In einem Friseurladen gab es nicht viel Hilfreiches, das wussten die meisten wohl. Und dennoch hatte Patricia oft genug um ihr Leben gebangt. Denn scheinbar war es heute eine Ausnahme, dass so gut wie keine Infizierten in der Nähe waren.
Ich nippte zwischendurch an meinem Kaffee, während wir ihr zuhörten und ihr von unserem Erlebten berichteten. Kaffee hatte sie wirklich massenhaft hier, denn sie bot ihren Kunden früher immer Kaffee an. Oder Wasser oder Cola. Und normalerweise hätte ich mich für eines der letzten beiden entschieden, doch wenn mein Körper sich artikulieren könnte, hätte er „KOFFEIN" geschrien. Änderte nichts an der Tatsache, dass der Kaffee scheiße schmeckte. Aber mal ehrlich, das war gerade wirklich mein geringstes Problem.
Allerdings... ich konnte wirklich nicht leugnen, dass mir diese kleine Auszeit gut tat. Ich hatte zum ersten Mal seit Wochen das Gefühl, wirklich mal etwas runter kommen zu können. Nicht Sekunde um Sekunde Angst um alles und jeden zu haben. Nicht Sekunde um Sekunde erwarten zu müssen, dass die Situation eskalierte, und mein Leben oder das meiner Liebsten schneller vorbei war, als mir lieb war - nur um es dann kurze Zeit später auf etwas andere Weise fortzuführen. Nicht Sekunde um Sekunde mich wie der größte Versager zu fühlen, der forderte und forderte, aber nicht in der Lage war, es eigenhändig zu schaffen. Nicht Sekunde um Sekunde krampfhaft versuchen zu müssen, nicht von dem Schmerz verschlungen zu werden, den man vehement auszublenden versuchte.
Es war angenehm, das alles für einen kleinen, sehr kleinen Zeitraum aus dem Kopf verbannen zu können. Doch so wie sich das Wort „klein" schon definierte, so wusste ich es bereits im Hinterstübchen, dass dieser eine Moment vorbei sein würde, ehe er wirklich begonnen hatte. Dass ich eine Mission hatte. Und dass ich diese Mission auf jeden Fall zu Ende bringen würde, koste es, was es wolle.
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Endless Death
FanfictionZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...