Kapitel 5 - Brechreiz - Kyra

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Die Straßen wirkten wie ausgestorben. War das Militär doch nicht so unnützig, wie ich es erst angenommen hatte? Ich meinte, hier und da lagen Leichen und ich wünschte, ich könnte behaupten, es würde mir nichts ausmachen, sie so zu sehen, aber immerhin wirkten sie wirklich endgültig mausetot. Alter, wenn ich sowas noch vor zwei Wochen angezweifelt hätte, ob die Toten auch wirklich tot waren und nicht schon in der nächsten Sekunde meinen Körper als Fleischtheke zur Selbstbedienung betrachten könnten; ich hätte mich auf Verdacht schwerster Paranoia selbst in die Klapse eingewiesen. Doch zu dem Zeitpunkt war mein schlimmstes Problem gerade mal die Geographieklausur, die letzte Woche hätte geschrieben werden sollen. Ich mochte Geo nicht und konnte es auch nicht. Doch ich wünschte, ich hätte sie schreiben können. Denn das würde bedeuten, ich müsste nicht hier sein...
   Ich merkte erschrocken, wie ich beinahe von der Straße abkam und lenkte mein Motorrad wieder gerade auf die Straße. Nicht so viel träumen, Kyra. Das ganze Konjunktiv-Zeug brachte mir jetzt auch nichts, ich konnte nichts an der Situation ändern, sondern sie nur hinnehmen. Einfach hinnehmen, dass die eigene Schwester eine Art Zombie-Virus in sich trug und brav verbreitet hatte, nun der ganze Bezirk und wer wusste schon wie viel mehr verseucht und verwüstet war und das alles, was man kannte, nun einfach weg war, mitsamt dem eigentlich fast normalen Leben. War doch ganz einfach, nicht wahr?
   Mein Sarkasmus ging mir selbst auf die Nerven. Ich versuchte, an gar nichts mehr zu denken und mich einfach auf die Straßen und Gebäude vor mir zu konzentrieren. Meinen Bruder sah ich im Rückspiegel hinter mir fahren. Sicherheits- und praktischhalber fuhr ich wie schon vorher geplant Motorrad, während er im Auto saß. Sowohl ich, als auch er hatten in unseren jeweiligen Fahrzeugen Vorräte verstaut, da doppelt besser hielt, und waren auch so erstmal auf Nummer sicher, falls eines unserer Fahrzeuge aus irgendeinem Grund den Geist aufgeben sollte. Und noch einen weiteren praktischen Grund hatte das zwei-Fahrzeug-Gespann: Ich musste mir im Auto nicht das vorwurfsvolle Schweigen von John antun. Er war sehr enttäuscht von mir und wie sollte ich es ihm verübeln? Er wollte schließlich nur das Beste für mich, er wollte mich in Sicherheit wissen und das hatte ich mit Füßen getreten, indem ich mich still und heimlich davon stehlen wollte. Anders herum wäre ich auch enttäuscht gewesen, nein, stinksauer und tottraurig. Aber es war nicht anders herum, er fühlte sich verraten und ich mich schuldig. Auf sich beruhen lassen war dieses Mal keine Option, das spürte ich. Es würde diesbezüglich noch ein Gespräch geben. Ein unangenehmes Gespräch.
   Ich seufzte. War es denn wirklich so schwierig, sich nur auf den Teer unter den Rädern zu konzentrieren? Ich hatte keine Zeit und Lust dazu, mich mit der Vergangenheit oder Zukunft herum zu plagen, ich hatte ein Ziel vor Augen, welches eine viel höhere Priorität besaß. Mein Vater. Und genauso hatten auch meine Freunde mehr Priorität. Laetis Zuhause beispielsweise lag auf dem Weg zur Arbeitsstelle meines Vaters. Zwar machte mir der Hintergedanke Angst, sie könnte eine von denen sein, da sie nicht ans Telefon ging, aber alles war besser, als die furchtbare, unerträgliche Ungewissheit. Alles.
   Wie von alleine hielt ich mein Motorrad an einer bekannten Straße. Ich stieg ab und sah mich um. Die Strecke war mir ins Blut übergegangen, ich würde nachts mit Augenbinde und gefesselten Händen herfinden. Nicht schlecht für jemanden mit einer Orientierung wie ein Stein. John hielt den Wagen ein paar Meter hinter mir an. Mir kamen unsere Motorengeräusche so verdammt laut vor, es wundere mich echt, dass keine Infizierten angelaufen kamen.
   Ein Schauer lief mir eiskalt den Rücken hinunter beim bloßen Gedanken, mit einem dieser... Dinger kämpfen zu müssen. Wo steckten die bloß? Boston war schließlich die größte Stadt Neuenglands und auch, wenn wir streng genommen noch nicht wirklich in Boston waren, befanden sich auch in Bostons Umgebung genug potentielle Fleischtheken. Hatte ich das Militär wirklich so unterschätzt? Gab es tatsächlich die Aussicht darauf, dass sie die Seuche in den Griff bekamen, die Infizierten ausrotteten und Boston vor "Schlimmeren" bewahren konnten? Dass es Schweigeminuten geben würde für die Opfer, Staatstrauer, öffentliche Beerdigungen und die Top News für eine Woche? Und in wenigen Wochen würden alle schon wieder ihren gewohnten Alltag nachgehen, nur hin und wieder kurz Gedanken an die Tragödie verschwenden, wenn überhaupt?
   "Scheiße, Kyra, pass auf!"
   Schneller als ich gucken konnte, wurde ich zur Seite geschubst. Am Boden liegend hörte ich, wie etwas in etwas anderes schmetterte. Um mich herum spritzte Blut auf die Straße. Paralysiert starrte ich die roten Flecken an, mein Herz raste schmerzhaft, mein Atem dafür ging umso langsamer. John hatte jemanden, nein... etwas getötet. Getötet. Tod. Sollte das wirklich mein neuer Alltag werden?
   "Verdammt. Kyra, alles gut bei dir?" John hockte sich zu mir, drückte meine Schulter nach hinten, damit er mich ansehen konnte. In seinem Gesicht stand breit die Sorge und das Entsetzen geschrieben, er hatte Blutspritzer im Gesicht. Er hatte mich beschützt. Gerettet. Nachdem ich ihn verraten hatte, hatte er keine Sekunde gezögert, mich zu beschützen.
   Mit Tränen in den Augen fiel ich ihm um den Hals. Erst jetzt merkte ich wirklich, was für eine Scheißangst mir der nur kleine Augenblick gemacht hatte. Und erst jetzt merkte ich, wie sehr ich aufgrund meines kleinen Ausbruchversuchs ein schlechtes Gewissen hatte.
   "Es tut mir leid, John! Ich wollte dich nicht verraten! Ich meine, nicht mit der Absicht, dich zu verraten! Ich habe Papa so sehr vermisst, ich konnte nicht mehr klar denken! Bitte hasse mich nicht."
   In meinem Gefühlsausbruch spürte ich, wie John mich umarmte. Es tröstete mich. Seine Wärme tröstete mich.
   "Ganz ruhig, Kätzchen. Es ist nun, wie es ist. Aber bitte sei leise. Sonst kommen noch mehr von denen."
   Ich biss mir auf die Lippe, um weitere zu laute Geräusche zu minimieren. Er hatte Recht. Natürlich hatte er das. Ich wollte nicht noch mehr von diesen Kreaturen sehen. Ich merkte, dass ich noch nicht bereit war, zu töten. Ich wollte es auch niemals sein. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, in die Welt hinaus zu spazieren, als wäre es kein Problem, dass dort überall diese Untoten herumliefen? Es WAR ein Problem!
   "Kyra..." Johns Stimme war leise und mahnend. Ich verstand. Zittrig entfernte ich mich von ihm und drehte mich um. Vor uns bewegten sich mehrere Gestalten auf uns zu. Ihr Gang war merkwürdig und sie gaben unschöne Geräusche von sich. So an sich waren sie echt unschön. Ohne Zweifel Infizierte. Ein eiskalter Schauer jagte mir über den Rücken.
   Überstürzt schnappte ich mir meinen Golfschläger, ließ ihn dabei beinahe durch die Gegend fliegen, und richtete ihn stocksteif da stehend auf sie. Ich sah, wie meine Hände zitterten, mein Herz raste vor Angst. John stand neben mir, ebenfalls mit seinem blutverschmierten Golfschläger in der Hand.
   "Shit", murmelte er leise. Dadurch fühlte ich mich nicht unbedingt besser. Dann ging er ein paar Schritte auf unsere Besucher zu und schmetterte dem ersten das Stück Metall gegen den Kopf. Bei dem Geräusch und dem Bild von dem Kopfgulasch wurde einen Brechreiz in mir ausgelöst.
   Kyra, du kannst später immer noch kotzen!
   Ich würgte die Übelkeit herunter und eilte meinem Bruder zur Hilfe. Ich holte aus, schlug und kniff die Augen automatisch zusammen. Erschrocken stellte ich fest, dass ich traf und hörte direkt danach den Aufprall eines Körpers auf den Asphalt. Ohne zu wagen, einen Gedanken daran zu verschwenden, sah ich mich um. John war gerade mit einem Untoten beschäftigt und ein weiterer näherte sich ihm gefährlich. Das versetzte mich so in Rage, dass ich mit voller Kraft meinen Schläger in seinen Kopf bretterte, es knackte laut und Blut spritzte in alle Richtungen. Auf einmal war mir gar nicht mehr übel. Ich war stinksauer.
   Das Etwas, mit dem mein Bruder beschäftigt war, fiel zu Boden. Es hatte ein großes Loch im Kopf und etwas Gehirnsuppe floss heraus. Mir fiel auf, dass John auf einmal ein Messer in der Hand hatte. Wo hatte er das denn jetzt her?
   Er wischte sich mit dem Handrücken über die blutbespritzte Stirn. Er schwitzte und hatte einen beschleunigten Atem. Über seine Lippen kamen deutsche Flüche und dann dankte er mir fürs Rücken-freihalten.
   Langsam beruhigte ich mich wieder und mit der Ruhe kam die Übelkeit zurück. Das Bild dieser widerlich zugerichteten Körper, dieser Gestank... Ich presste die Hand auf die Nase, wandte mich schnell ab und ging Richtung Laetis Familienhaus. Es wirkte so... unberührt. Sauber. Fast so edel, wie vor der Seuche. Nur eines beunruhigte mich: Das Blut an der Tür.
   Fest umgriff ich meinen Golfschläger, schlagbereit, und näherte mich dem Haus. Bitte. Bitte, Laeti, sei am Leben. Bitte. Tue mir diesen einen Gefallen.
   Innen rumpelte etwas. Mein Atem stockte. Angst und gleichzeitig Hoffnung durchströmte mich.
   Das Rumpeln wurde lauter. Automatisch wich ich zurück, stieß dabei gegen John. Es klang, als würde es direkt hinter der Tür kommen. Dann öffnete sie sich. Ganz langsam. Ich schiss mir fast in die Hose.
   Was ich sah, brach mir das Herz und ich ließ den Golfschläger fallen. Blaue Haare stachen hervor, ich erkannte sogar noch ein paar Haarspangen. Die Haut war größtenteils blutverkrustet. Die Kleidung dreckig und... mit Innereien geschmückt. Mein Magen drehte sich um mindestens 360°.
   Sie kam auf mich zu. Panisch griff ich zum Waffenholster, zückte die Waffe. Zitternd richtete ich sie auf ihren Kopf.
   "Himmel, Kyra! Nimm die Waffe runter!"
   Vor Schreck drückte ich ab. Die Stimme war weiblich! Und... Laetitia-mäßig.
   Vor mir fiel sie auf die Knie. Nein, nein! Nicht doch! Laeti! Ich hatte sie getötet!
   Dann drehte sie sich mit dem Oberkörper zu ihrer Hauswand. "Heilige Mutter Maria im Himmel. Du hättest mich fast abgeknallt! Du nimmst es mir doch nicht immer noch übel, dass ich dir neulich dein Sandwich geklaut habe?"
   Sie... sie lebte noch.
   Das war der Moment, an dem ich dann doch kotzen musste.

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt