Kapitel 17 - Zusammenschluss - Kyra

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Keuchend, mit rasendem Herzen und dem schlimmsten Schmerz in der Seele stand ich nun wieder auf dem offenen Gelände der Zentrale. Meine Brust schmerzte so sehr, ich hatte nur noch das Verlangen, sie aufzukratzen und alles von innen nach außen zu stülpen. Beinahe wie ein Untoter. Wie schön müsste es jetzt sein, tot zu sein. Ende, aus, vorbei mit all dem Schmerz. Einfach abschließen. Einfach tot.
Bevor ich auf dumme Ideen kommen konnte, schlossen auch schon Laeti, ihre Mutter und wenige Sekunden später auch John zu mir auf. Er konnte mich nicht ansehen. Er lief direkt weiter zum Auto. Unbegreiflich, warum die noch unbeschadet und unangetatscht da standen. Immerhin herrschte auch schon hier auf dem Hof ein Chaos, wie es bei einer sonst so koordinierten und organisierten tele- und funktechnischen Zentrale nicht sein sollte. Überlebende Mitarbeiter rannten hier und da und suchten Schutz in ihren Fahrzeugen, das Haupttor stand bereits offen. Noch kamen wenige Infizierte aus dem Gebäude, allerdings kam die Gefahr nun auch noch aus einer ganz anderen Richtung; nämlich durch das Tor, das uns eigentlich aus der Gefahrenzone bringen sollte. Pusteblume. Die Gefahrenzone war überall.
Meine Leidensgenossen stiegen ins Auto, ich schwang mich auf mein Motorrad. Ohne weitere Zeit zu verlieren, verließen wir diesen gottverdammten Platz. Wenige hundert Meter, nachdem wir das Tor passiert hatten, hielt ich jedoch noch einmal an, stellte mich quer auf die Straße. Ich warf einen letzten Blick auf das Gebäude, welches mir bis vor vielleicht noch einer halben, dreiviertel Stunde als das sicherste Gebäude der Stadt erschien. Das Gebäude, welches nun bereits zu einem guten Teil in Flammen stand. Das Gebäude, welches ich zwei Wochen fest vor Augen hatte, weil ich wusste, dass ich dort einen geliebten Menschen finden würde. Und diesen geliebten Menschen hatte ich gefunden. Doch nun hatte ich ihn bereits nach kürzester Zeit wieder in dem vermeintlich sichersten Gebäude Bostons verloren. Für immer.
Brennende Tränen kratzten von innen gegen meine Augen, krampfhaft wandte ich den Blick ab. Viel zu stark gab ich Gas und wäre beinahe mit einem Backflip auf dem Asphalt gelandet, aber ich hatte Glück. Oder auch Unglück. Ich blieb auf den Rädern und setzte nun unaufhaltsam meinen Weg fort, so weit wie möglich von dieser Hölle, dieser Hölle, die mir meinen Vater nahm, wegzukommen.

In der Fahrschule hatte ich gelernt, dass man mit starken Emotionen nicht Auto fahren sollte, geschweige Motorrad. Bisher hatte ich mich eigentlich immer daran gehalten und wenn ich während der Fahrt doch sehr emotional wurde, war ich bei der nächsten Gelegenheit rechts rangefahren und versuchte, mich zu beruhigen. Ein Unfall, vor allem selbstverschuldet, war das Letzte, was ich wollte. Zumindest war das zu der Zeit noch so. Jetzt war alles anders. Nicht im Entferntesten fiel mir ein, eine Pause einzulegen. Nicht im Entferntesten fiel mir ein, einen Unfall zu vermeiden. Nein... Ich provozierte einen, vielleicht mehr unterbewusst als bewusst. Aber meinen Fahrstil konnte man gewiss nicht als „vorausschauend" und „rücksichtsvoll" beschreiben. Und ich würde sicherlich noch weniger vorausschauend und rücksichtsvoll fahren, wenn diese ganzen Trümmer, (Un-)Toten und zurückgelassenen Fahrzeuge meine Geschwindigkeit nicht vermindern würden.
Durch diese starken, kranken Emotionen waren meine Konzentration und Reaktionszeit vollkommen nachlässig, viel zu spät hörte und sah ich den Verkehr, der an einer Kreuzung plötzlich von rechts kam. Die Reifen meines Motorrades quietschten furchtbar, als ich bremste und zudem ein lebensmüdes Ausweichmanöver vollzog. Aus gefühlt allen Richtungen hörte ich nur noch mehr Reifenquietschen und ich verabschiedete mich bereits von meinem Leben, das mir auf einen Schlag wichtiger erschien, als vor wenigen Sekunden noch. Weshalb ich direkt nach dem Stillstand von meinem Zweiradfahrzeug sprang, dabei die Waffe zog und versteckt hinter meiner Maschine auf den fremden Fahrer zielte. Ich realisierte nun, dass ich beinahe mit einem anderen Motorradfahrer zusammengekracht wäre, und dass er exakt das Gleiche tat, wie ich. Im Augenwinkel sah ich die Autos stehen und wie die Fahrer ausstiegen - sprich John und der Fremde.
„KÖNNT IHR NICHT AUFPASSEN, IHR SPINNER?!", brüllten ich und der andere Motorradfahrer gleichzeitig, während seine, auf mich gerichtete Waffe das Licht der langsam untergehenden Sonne reflektierte. Moment... diese Stimme kannte ich doch! Und diese Haare erst!
Verdutzt senkte ich die Waffe und richtete mich auf. „Castiel?"
„Kyra?" Sein Blick wanderte prüfend zu meinem Bruder. „John?"
„Castiel?"
Nun wanderte mein Blick zu ihrem Auto. „Leigh?!"
„Kyra?"
„Schokopudding!", rief die Stimme eines kleinen Mädchens aus ihrem Auto. Ich konnte es nicht fassen.
Nun ging ihre Beifahrertür auf und mir kamen die Tränen, als ich silber schillerndes Haar entdeckte. Die heterochromen Augen blickten mich an wie Rehe im Leuchtkegel. „Lysander..."
Er... er war hier. Er war am Leben. Gott aus jeder erdenklichen Religion und Kultur, ich danke dir!
Ich umrundete mein Motorrad und ging zwei Schritte auf ihn zu. Dann wurde es mir aber schon zu langsam und rannte stattdessen. „Lysander!", rief ich dabei aus der tiefsten Erleichterung heraus, die ich empfinden konnte. Auch er trat um das Fahrzeug und machte es mir möglich, mich in seine ausgebreiteten Arme zu werfen. Seine Umarmung war fest und genau das war es, was ich gerade so brauchte. Wärme, Geborgenheit, Halt... All das löste er in mir aus. Mit einer fast simplen Berührung.
„Es tut mir so leid, Lysander", flüsterte ich reuevoll, meine Arme um seinen Hals geschlungen, mein Gesicht in seiner Schulter vergraben. „Ich hätte mich öfter melden sollen. Aber das alles... es war einfach zu viel. Aber dann brach das Netz zusammen und... ich..."
Ich zuckte zurück und betrachtete ihn, scannte ihn von oben nach unten nach möglichen Verletzungen oder sonstigen Ungereimtheiten ab. Doch er erschien soweit okay. Bis auf eine Kleinigkeit.
„Lys, wie siehst du aus? Was hat diese Seuche nur mit dem extravaganten Lysander angestellt?" Ich zupfte an seiner Otto Normalverbraucher-Kleidung. Dennoch sah er selbst in dieser unverwechselbar aus. Und gutaussehend. Er trug einen dunkelgrünen Rollkragenpullover mit einer schwarzen Übergangsjacke und schwarze Hosen. Das einzig vom „alten Stil" Verbliebene waren seine Stiefel, wenn auch nicht die, die er vorwiegend trug.
Der Silberhaarige lächelte mich sanft an. Dieses geheimnisvolle Lächeln, das er immer lächelte, wenn ich Unsinn erzählte, den ihn amüsierte, er aber nicht weiter darauf einzugehen beabsichtigte. „Du hast mir gefehlt, Kätzchen."
Ich löste mich nun vollständig von meinem besten Freund und sah mich kurz um. Ich bemerkte, dass uns jeder beobachtete, bis auf John und Castiel, die irgendwas miteinander beredeten. Ihre Kameraden waren aus dem Auto gestiegen und mit Freude erkannte ich, dass sich tatsächlich auch meine Freundin Pia mit ihrer jüngsten Schwester unter ihnen befand. Freudig hüpfte ich auf sie zu und umarmte sie fest. „Ihr seid okay!", rief ich dabei glücklich.
„Kia! Kia!" Das süße Stimmlein von Devi drang mir in die Ohren und ich löste mich aus der Umarmung. Pias Schwester stand neben ihr und streckte mir mit großen, frohen Augen ihre kurzen Arme entgegen. Ich hob sie hoch.
„Na, du süße, große Maus", flötete ich und kniff ihr leicht in die Wange. Sie kicherte. Die Kleine war so ein liebes Kind. Es freute mich wirklich, dass sie noch lebte. Doch andererseits... bekam sie das hier nun alles mit und wuchs schlimmstenfalls sogar noch damit auf. War das überhaupt eine lebenswerte Kindheit, ein lebenswertes Leben?
Aber das waren Gedanken, die nicht ausgesprochen gehörten. Die würden das Mädchen nur verängstigen. Stattdessen fragte ich ruhig: „Und, geht es dir soweit gut, Maus?"
Devi nickte eifrig. „Pia und die anderen machen die bösen Monster tot und beschützen mich!"
„Natürlich tun sie das. Eine Prinzessin muss man ja auch schließlich beschützen, möge sie sich noch so gut selbst helfen können", erwiderte ich liebevoll und strich ihr durch das Haar. Sie strahlte mich an wie die Sonne.
Dann wandte ich mich endlich der gesamten Gruppe zu, Devi noch immer auf dem Arm. „Was macht ihr hier? Ich dachte, ihr habt euch in der Schule verschanzt."
Eine kleine Hellblonde, die ich zwar schon definitiv mal gesehen hatte, da sie in Lysanders und Pias Klasse ging, ich aber nie im Leben auf ihren Namen gekommen wäre, meldete sich zu Wort. „Uns sind die Lebensmittel ausgegangen. Wir waren gezwungen, uns nach draußen zu wagen."
„Okay. Und ihr seid jetzt auf den Weg wohin?"
„Zurück zur Schule."
„Kia soll mitkommen!", rief Devi und klammerte sich an meinen Hals.
„Das steht ja wohl außer Frage", stimmte ihre große Schwester zu und fügte schnell ein „Und die anderen natürlich auch!" hinzu, bevor sie sanft lachte.
Mir wurde warm ums Herz, während ich Devi enger, aber noch sanft genug, um ihr nicht wehzutun, an mich drückte. Zu wissen, nun an einen Ort zu können, wo viele meiner Bekannten und Freunde und meiner zukünftigen Bekannten und Freunde untergekommen waren, schaffte es sogar, mir genug Kraft zu geben, mich gegen mögliche aufkommende Gedanken der Angst und Zweifel zu wehren. Das war nicht leicht, natürlich war es das nicht. Die düsteren Gedanken und Erinnerungen in meinem Hinterkopf warteten nur auf den geeignetsten Moment, wieder herauszubrechen und mich auf die tiefsten, dunkelsten und deprimierensten Gründe zu ziehen. Aber in genau diesem Moment reichte die Kraft, reichte diese kleine Hoffnung, die mir diese Menschen gaben.
Mir wurde eine Hand auf die Schulter gelegt, auf dessen nicht Devis Kopf lag. Ich drehte den Kopf herum und schaute in das aufbauend lächelnde Gesicht meines besten Freundes. Ich fürchte, er konnte spüren, dass es diesen Zwiespalt in mir gab, wenn er auch nicht benennen konnte, was genau los war. Ich begnügte mich damit, ihm ein leichtes Lächeln zurückzugeben.
John erhob nun zum ersten Mal laut das Wort: „Wir sollten uns dann auch langsam auf den Weg machen. Es wird dunkel."
Tatsache. Der Himmel begann langsam, sich orange-rot zu färben. Es war wunderschön, trotz allem. Und es würde gewiss immer wunderschön bleiben.
„Sieht so aus, als seid ihr ziemlich voll beladen. In meinem Wagen sind noch zwei Plätze frei. Entscheidet euch, wer umsteigen möchte, dann kann's losgehen."

Devi wollte unbedingt zu John ins Auto. Ich wusste nicht genau, warum, ich hatte ihr erklärt, dass ich nicht damit fahren würde, aber sie wollte trotzdem. Also entschied Pia mit ihrer Schwester in Johns Geländewagen umzusteigen. Mir fiel es aber seltsamerweise sehr schwer, Devi loszulassen und zu Pia zurückzugeben. Ich wollte länger durch ihr weiches, dunkles Haar streichen. Aber das wäre ohnehin nicht möglich gewesen. Auf einem Motorrad fuhr es sich schließlich schlecht mit einem kleinen Kind auf dem Arm.
Als ich gerade an meinem Gefährt stand, entdeckte ich Infizierte ein paar Dutzend Meter von uns entfernt, ein paar kamen auch auf uns zu.
„Hey, Cas. Sieht du die?", fragte ich den nur wenige Meter neben mir stehenden Rothaarigen und schwang mich auf mein Motorrad.
„Jup."
Ich startete den Motor. „Na dann nichts wie weg hier."

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt