Kapitel 7 - Unschöne Konfrontationen - Kyra

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"Du... Du hast dich mit dem Blut eines Toten bemalt, ihn ausgeweidet und das Zeug an deine Kleidung geschmiert, weil die Infizierten dich dann nicht mehr als Mensch wahrnehmen?" Vollkommen entsetzt starrte ich meine beste Freundin an, allein beim Gedanken bekam ich wieder einen Würgereiz. "Hast du eine Ahnung, wie krank das ist?!"
   "Krank, aber äußerst wirksam!", erwiderte sie, als würde sie über das Wetter reden. Wir saßen mittlerweile im Wohnzimmer in ihrem Haus, Laeti war frisch geduscht, doch es stank hier noch immer nach Tod. Ihre neuartige Garderobe musste sich an die Möbeln gehaftet haben. Hier könnte ich keinen Tag bleiben.
   "Welchen Leichnam hast du dafür denn geschändet?" Es fiel mir schwer, die Ruhe zu bewahren. Es geschahen gerade zu viele Dinge auf einmal, womöglich war mir das Ausmaß des Chaos, welches das allgemeine Chaos in mir verursacht hatte und noch immer verursacht, gar nicht bewusst. Und ich hatte Angst, es herauszufinden.
   Ihre Stimme wurde nun kleinlaut: "Den... Nachbarn?"
   "Das ist so abartig", würgte ich. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte daraus keinen Hehl machen können, wie sehr mich das anekelte und abstieß. Ich musste mich nur daran erinnern, wie übel mir schon wurde, so einem Vieh eines über die Rübe zu geben. Es auch noch an mir mit herumtragen... Da wäre ich dann lieber selbst tot.
   "Ist ja gut!", stieß die Blauhaarige aus. "Was hätte ich denn machen sollen? Meine Mutter ist verschwunden und ich kann doch hier nicht ewig allein und tatenlos herumsitzen. Aber ich kann nicht mal eine Fliege töten! Ich dachte... dann bedien' ich mich halt mit dem, was da ist... Er war ja bereits tot."
   Zwar verringerte es nicht meine Übelkeit, aber verstehen konnte ich sie trotzdem irgendwie. Ich musste an mein Vorhaben von vorhin denken, als ich alles dafür getan hätte, die Flatter zu machen, um meinen Vater zu suchen. Dafür hätte ich sogar John allein gelassen. Laeti hatte da einfach eine andere Methode für "alles dafür tun".
   "Und woher wusstest du, dass das klappen würde?", meldete sich nun mein Bruder zu Wort, deutlich ruhiger als ich.
   Laeti zeigte mit dem Daumen hinter sich. Dort war eine Wand, doch ich verstand anhand ihrer folgenden Erklärung, dass sie etwas außerhalb meinte. Sie habe es bei anderen Nachbarn beobachtet, die die Flucht angetreten hatten. Waren denn hier alle krank drauf?
   "Niemals mache ich das, damit das klar ist", stellte ich mit fester Stimme klar. "Ich habe so schon meine Probleme, es überhaupt sehen zu können. Ich werde es gewiss nicht an mir tragen. Und es tut mir leid, Laeti, egal, wie sehr ich mich freue, dass du noch am Leben bist, aber die Methode geht einfach gar nicht. Dann... töte ich lieber."
   Es war die Wahrheit, aber eine Lösung, die mir nicht wirklich besser gefiel. Wie gern würde ich jetzt auf einer einsamen Insel feststecken.
   Die Blauhaarige schwieg eine ganze Weile und wir schwiegen mit. In der Stille konnte ich ganz leise Gestöhne hören und es kratzte etwas an der verbarrikadierten Haustür. Schon durch dieses Geräusch spannte sich mein gesamter Körper an. Wie in einem Horrorfilm oder Horrorspiel, bei dem man einfach erwartete, dass gleich etwas passieren würde. Und nun war ich in meinem persönlichen Horrorfilm, in dem jede Millisekunde etwas passieren könnte.
   "Gut...", brach schließlich Laeti die Stille und ließ mich erschrocken zusammen zucken. "Ich will euch nicht zur Last fallen, aber ich habe ehrlich gesagt eine Riesenangst. Ich will nicht allein nach meiner Mutter suchen, wenn ich jetzt schon bei euch bin. Durch den Stromausfall konnte ich niemanden kontaktieren, ich hatte und habe Angst um jeden, den ich kenne. Ich bin so froh, dass ihr noch am Leben seit." Sie machte eine kurze Pause. "Bitte, könnt ihr mich mitnehmen und mir helfen, nach meiner Mutter zu suchen?"
   Bevor ich auch nur irgendwas antworten konnte, kam mir John zuvor: "Das steht ja mal außer Frage. Du wirst bei mir mitfahren. Soweit ich weiß, arbeitet deine Mutter in der Nähe unseres Vaters, oder?"
   "Genau."
   "Willst du versuchen, sie anzurufen? Wir haben unsere Handys dabei."
   Sofort leuchteten ihre strahlend blauen Augen auf.
   "SHIT!", stieß ich auf einmal viel, viel zu laut aus. Die zwei zuckten heftig zusammen. Das Kratzen an der Tür wurde lauter und ich spürte das Adrenalin durch meine Adern schießen.
   "Was?", fragten die beiden gleichzeitig.
   Ich sprach so leise wie möglich, aber dass sie mich noch hören konnten: "Warum haben wir Spasten unsere Fahrzeuge da draußen stehen lassen?? Der nächste, der vorbei kommt, wird keine Skrupel haben, die Koffer aufzubrechen oder die Fenster einzuschlagen und unsere Vorräte zu stehlen oder direkt das ganze Fahrzeug!"
   Unruhig sprintete ich zum Fenster auf der Straßenseite, schob die Gardine ein Stück bei Seite. Sie standen noch da. Eine tiefe Erleichterung durchströmte mich. Doch die war nur von kurzer Dauer, als plötzlich eine eingefallene, graue Fratze mit rot-gelben Zähnen direkt hinter der Scheibe auftauchte und an die Scheibe patschte. Automatisch wich ich einige Schritte zurück.
   "Hol deine Sachen, Laeti. Wir fahren sofort."

Je näher wir uns dem Zentrum Bostons näherten, desto mehr wurde deutlich, wie aussichtslos die Lage war. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft wir Infizierten oder Gruppen von Infizierten auswichen, ausgebrannten, quer stehenden Wagen, Leichen; dem buchstäblichen Chaos. Wir mussten durch Nebenstraßen schleichen, denn die 93 und 28 waren überlagert mit Massenkarambolagen, zurückgelassenen Autos und eines besonders: Infizierten. Ein Kaffeekränzchen mit denen musste jetzt wirklich nicht sein. Ich war nicht durstig. Oder allgemein scharf auf ein Rendezvous.
   Ich legte eine schön quietschende, schwarze Spuren hinterlassende Vollbremsung hin, wobei ich beinahe vom Motorrad flog. Erneut schoss mir das Adrenalin durch die Venen, sprang vom Fahrzeug, zückte meinen Golfschläger und wich zurück. Nein, ich hatte so gar keinen Bock auf die! Wieso konnten sie mich nicht einfach in Ruhe zu meinem Vater lassen? Was war deren scheiß Problem?!
   "Kyra!"
   Ich konnte meinen Namen so langsam echt nicht mehr hören. John tauchte neben mir auf. Laeti saß verängstigt im Wagen, welcher direkt hinter uns stand. Ich gab ihr Zeichen, ruhig und im Auto zu bleiben, obwohl ich mich mal selbst beruhigen sollte.
   "Bereit?", fragte mit der Braunhaarige.
   "Nein."
   Wir schritten auf die hässliche Gruppe zu. Die negativ behaftete Aufregung konnte nicht ganz meine erneut aufkommende Übelkeit überdecken. Wie lange würde ich brauchen, um mich an dieses Grauen zu gewöhnen? An die Gewohnheit, zu töten, um selbst zu überleben, ohne dieses Bedürfnis, mich direkt danach auf die Infizierten zu übergeben? Noch zweifelte ich, mich überhaupt jemals ansatzweise daran gewöhnen zu können.
   Wie die Bekloppten schlugen wir auf die Schädel dieser Kreaturen ein. Ohne die natürlichen Aufputsch-Hormone wäre mir schon längst die Puste ausgegangen, und dennoch spürte ich, wie mich die Kraft verließ. Wieder holte ich aus, doch hämmerte den Schläger lediglich in die Schulter der infizierten Frau.
   "Kyra!", rief mein Bruder schockiert, als sich das Vieh auf mich stürzte und umwarf. Im Hintergrund hörte ich Laeti schreien, mit größter Mühe versuchte ich, meinen Hals zu schützen, doch sagte das mal dieser Frau hier. Du bist nicht du, wenn du hungrig bist.
   "JOOOHN!"
   Blut spritze auf mich, der Körper kippte zur Seite. Keuchend trat ich ihn fort, krabbelte rückwärts. Schnell griff ich nach meinem Golfschläger und stand auf. Mein Bruder stand wenige Schritte vor mir, angespannt bis in die letzte Faser. Die tote Frau – also, nun wirklich tote Frau – lag vor ihm. Es brodelte in mir hoch, heißer und heißer, und für einen Moment vergaß mein Körper, dass er eigentlich keine Kraft mehr besaß. Ich holte aus und schlug immer wieder auf den Schädel der am Boden liegenden Gestalt ein. Bei jedem Schlag brach mehr vom Knochen. Bei jedem Schlag spritzte mehr Blut und Gehirnsuppe auf meine Kleidung. Bei jedem Schlag brüllte ich mehr Wörter der Wut: "ICH. HAB. GENUG. VON. DIESEN. SCHEIß. PISSERN!"
   Irgendwann konnte ich dann wirklich nicht mehr. Nach Luft ringend stand ich da, hielt mich mit Hilfe meines Golfschläger oben. Ich starrte auf das Etwas vor mir, was eins ein Mensch war, aber jetzt bestenfalls nur noch aus Gesichtsgulasch und Frischluft-Organen bestand. Mein Magen drehte sich unangenehm im Karussell und ich spürte, wie mir jemand an die Schulter fasste und mich davon wegdrehte. Ich befand mich an einer warmen, eklig metallisch riechenden Brust, doch die Wärme, die von ihr ausging, hatte eine größere, vor allem wohltuendere Wirkung auf mich, durch die sich mein Würgereiz in annehmbaren Grenzen hielt. Ich wollte nur noch diese Wärme. Ich wollte nichts anderes mehr spüren, nur Wärme und Geborgenheit. Sicherheit und Sorglosigkeit. Eine Welt, nicht bevölkert mit Dingern, die an dir rumknabbern wollten wie an einer Salzstange. Wo waren Cosmo und Wanda, wenn man sie mal brauchte?
   John strich mir über den Rücken, bevor er mich langsam losließ. "Komm", sagte er. "Wir müssen weiter." Dann ging er zum Auto. Ich sah an mir herunter. Ich stank, soviel stand mal fest. Blut war unvermeidbar, wenn man sich gegen die Infizierten wehrte, aber offenbar reichte allein Blut nicht aus, um auch nicht von ihnen erkannt zu werden. Und auch dieses bisschen Gehirnsuppe nicht.
   Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter oder versuchte es zumindest. Warum konnte nichts hier mal vergleichsweise einfach sein?
   Ich ging zu meinem Motorrad zurück. Als ich mich raufschwang, verschmutzte ich es. Ganz große Klasse. Bestimmt würde es auch nicht lange dauern, bis sie nicht mehr schwarz-grün, sondern schwarz-rot oder ganz rot war. Warum nicht.
   "Dann mal los", sprach ich zu mir selbst und startete den Motor. Weit war es nicht mehr bis zur Brücke, die über die Meeresmündung zum Zentrum Bostons führte. Und von dort würde es nicht mehr weit bis zu Papa sein. Wenn nicht mehr Unvorhersehbares geschah, würde es bestenfalls nur noch zehn bis fünfzehn Minuten dauern. Doch was war zu der Zeit noch "unvorhersehbar"...?

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt