Kapitel 41 - Nachtruhe - Kyra

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Es dämmerte bereits, als die Infizierten unten am Gebäude endlich Ruhe gaben. Diese Mistviecher waren ganz schön zäh. Wir warteten trotzdem noch ein wenig, bis wir auch so weit sicher waren, dass sie sich weit genug von uns entfernt hatten. In dieser Zeit betrachtete ich verstimmt die braunhaarige Leiche, die gegen den Dachausstieg lehnte. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen und aus seiner Stirn hatte es aufgehört, zu bluten. Er war ganz bleich, als hätte sämtliches Blut seinen Körper verlassen. Aber er wirkte... friedlich. Als sei er jetzt an einem besseren Ort. War er das? Gab es einen besseren Ort, nachdem man diesen hier verlassen hatte? Es konnte kaum schlimmer sein, allerdings könnte auch das große Nichts auf einen warten. Das große Nichts, in dem man nichts mehr mitbekam, nichts mehr fühlte, nichts mehr passierte. Das klang... Das klang verlockend...
   "Wir sollten uns einen Unterschlupf für die Nacht suchen. Im Dunkeln bringt eine Weiterreise nichts", meldete sich Viktor - wir hatten uns bereits allen einander vorgestellt - zu Wort. Ich sah hoch in den Himmel. Es war stark bewölkt, was die Dunkelheit nur beschleunigte und es sah aus, als würde es bald auch hier regnen. Ich roch ihn bereits.
   "Besser is'", bestätigte Dake, während er auf der gegenüberliegenden Seite der Steigleiter vom Dach runtersah. "Hier ist 'ne Feuertreppe. Soll ich nachschauen, ob man von hier aus durch irgendein Fenster einsteigen kann?"
   Die Tür des Dachausstieges war aus Stahl. Nicht eintretbar und von außen nicht ohne Schlüssel zu öffnen. Den wir natürlich nicht besaßen.
   "Können wir das riskieren? Was, wenn da Infizierte drin sind? Oder durch den Krach die anderen wieder zurückkommen?", gab ich mit mulmigen Gefühl zu bedenken. Ich würde lieber in einem Einfamilienhaus campieren. Mit schön verbarrikadierten Türen und nicht der Gefahr, in sämtlichen Nebenwohnungen kratzen, stöhnen und/oder das schmatzende Geräusch von rohem Fleisch zwischen den Zähnen zu hören. Es waren von hier aus aber weit und breit keine zu sehen. Und bei Tot-Simon wollte ich auch nicht unbedingt bleiben.
   "Zombies könnte es überall geben, die müssen wir halt töten. Und selbst wenn die anderen das hören und zurückkommen, wir sind eine Nacht safe und bis morgen werden die sich dann sicherlich wieder verzogen haben." Dake drehte sich vom Dachrand weg und kam auf mich zu. Viel zu dicht vor mir blieb er stehen. "Wir haben keine andere Wahl und keine Zeit, nach etwas anderem zu suchen. Wenn du also hier auf dem Dach pennen willst, tut es mir sehr leid, Süße, aber da bleibe ich nicht bei dir."
   Ich wich ein paar Schritte zurück und verkniff es mir, seinen schlechten Atem aus dem Gesicht zu wedeln. Er konnte wohl wenig dafür, dass die Mundhygiene in solchen Zeiten an eher zweiter Stelle stand. Wobei man es wirklich vermeiden sollte, demnächst einen Zahnarzt zu brauchen, denn dieser wird bestimmt nicht mehr so leicht zu finden sein, wenn man jetzt nicht zwingend mit einem unterwegs war und ums blanke Überleben kämpfte.
   Castiels Stimme hallte übers Dach: "Dann sollten wir zuerst unsere Sachen holen, bevor du Krach machst und diese Arschlöcher wieder anlockst."
   "Und die Motorräder?", wollte ich wissen. Dass die geklaut oder sonst was werden, wollte ich jetzt weiß Gott nicht.
   "Müssen wir wohl verstecken."
   "Im Park vielleicht", schlug Nathaniel vor. "Zwischen dem Gestrüpp."
   Na ganz toll. Da wollte ich meine Maschine sehen. Aber eine bessere Idee wollte mir auch nicht einfallen. Also machten wir es so.

Der blonde Strandtyp schaffte es nicht, eines der Fenster auszuhebeln. Weshalb er sich zu seinem schwarzhaarigen Begleiter umdrehte, die Hand ausstreckte und um den Hammer bat, den er bei sich trug, ich aber bisher nicht gesehen hatte. Damit schlug er die Scheibe ein. Das Zerbersten vom Glas hallte mit Sicherheit noch einige Straßen weiter. Beunruhigt sah ich von der Feuertreppe hinunter, meine Höhenangst möglichst ignorierend. Von dem Geräusch angelockt, tummelten sich wieder einige Gulaschfratzen am untersten Ende des metallischen Gerüstes und streckten ihre Arme zu uns in die Höhe. Widerlich.
   Dake leuchtete mit einer Taschenlampe in die dunkle Wohnung hinein. Wir waren ganz still, damit wir nach dem leistesten Geräusch horchen konnten. Da kam um die Ecke auch schon ein Untoter auf uns zugerannt. Erschrocken hielt ich die Luft an. Kaum am Fenster angekommen, sackte der Infizierte aber auch schon zu Boden. Er war geradezu in das lange Messer von Castiel hineingelaufen. Erneut horchten wir, doch nichts weiter geschah. Castiel und Nathaniel stiegen in die Wohnung ein, hielten kurz inne und hievten dann den leblosen Körper vom Boden, um diesen durch das Fenster zu den beiden anderen Jungs zu reichen. Wenige Sekunden später segelte er auch schon über die Brüstung gen Boden. Das aufklatschende Geräusch jagte mir eine kalte Gänsehaut über den Rücken. Bloß schnell rein.
   Im Inneren der Wohnung war es kalt, dunkel und chaotisch, egal wohin die Taschenlampe zeigte. Klamotten, Dekoartikel und Essesreste lagen überall verstreut und hinterließen einen unangenehm beißenden Geruch. Ich rümpfte die Nase.
   "Wollen wir uns nach einer anderen Wohnung umschauen?", schlug Nathaniel das vor, was mir im Kopf herumschwirrte.
   "Ich kann gern durch die anderen Fenster leuchten", sagte Dake. "Aber ich bezweifle, dass es dort groß anders aussehen wird." Damit verschwand er auch schon wieder durch das zerbrochene Fenster. Wir anderen durchforsteten hingehen den Rest der Wohnung. Es sah im Prinzip fast überall so aus wie in dem Wohnzimmer, in das wir eingestiegen waren. Nur im Badzimmer war es schlimmer.
   "Hier bleibe ich nicht", röchelte ich, nachdem ich mich in eine der Ecken übergeben hatte. Mein Blick huschte zurück zur Badewanne, in der eine halb verrottete, durchweichte Leiche in einer Mischung aus Wasser und Blut schwamm. Die Kehle war aufgeschlitzt. Schnell wandte ich den Blick wieder ab und verließ schnurstracks das Bad.
   Da in der gesamten Wohnung richtiges Durchatmen nicht möglich war, wollte ich gerade durch das kaputte Fenster nach draußen fliehen, doch da kam mir auch schon der Strandtyp entgegen und leuchtete mir mitten ins Gesicht.
   "Wow, du bist ja ganz blass. Kann ich dir helfen, Süße?"
   Wieder rümpfte ich die Nase und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er sollte mir bloß nicht zu nahe kommen.
   "Du hilfst mir ungemein, wenn du eine andere Wohnung gefunden hast."
   Jetzt kam auch der Rest unserer bunten Gruppe aus dem Badezimmer getrottet.
   "Und?", fragte Viktor etwas neben der Spur.
   "Wir haben Glück", begann Dake zu berichten. "Da ist 'ne Wohnung, die scheint ganz normal zu sein. Zumindest das Wohnzimmer."
   Mehr brauchte ich gar nicht zu hören und flüchtete aus dem Fenster. Da ich allerdings nicht wusste, welche Wohnung er meinte, wartete ich draußen auf die anderen. Der Blondschopf mit dem dunkelgrünen Augen führte uns dann über die Feuertreppe eine Etage weiter nach unten. Die Untoten stöhnten noch immer ein paar Stockwerke unter unseren Füßen nach unserem Fleisch. Letztendlich blieb er stehen und leuchtete durch ein Fenster. Wir sahen es uns kurz an und gaben das Okay zum Einschlagen. Nachdem er auch dieses Fenster zerstört hatte, ging die ganze Aktion von eben von vorne los, nur mit dem Unterschied, dass es nun um einiges dunkler geworden war. Wir horchten, stiegen ein, horchten weiter, durchsuchten die Wohnung - alles soweit in Ordnung, nur ein wenig muffig und unaufgeräumt. Dake hatte recht, wir hatten Glück.
   Wir richteten uns für die Nacht ein. Es gab ein großes Sofa, wir fanden zwei Isomatten und zwei große Hundebetten, die wir zusammenschoben und mit einem Laken abdeckten. Das Schlafzimmer mieden wir. Es war schmutzig und blutig, wir wussten nicht,  warum und woher und wollten es auch nicht wissen.
   Ich war die kleinste von allen, deshalb ließ ich meine Sachen kommentarlos neben dem provisatorischsten Bett fallen. Daraufhin miaute meine Tasche. Wir alle hielten mitten in der Bewegung inne und starrten einige Sekunden lang diese Tasche an.
   "Hat deine Tasche... gerade miaut?", fragte der unsympathischere Blondschopf so verwundert, wie wir alle wohl waren. Langsam ging ich neben meiner Tasche in die Hocke und mindestens genauso langsam zurrte ich den Verschluss auf. Dake leuchtete währenddessen auf meinen Rucksack. Zwei große braune Augen in einem flauschigen grau-schwarz gestreiften Gesicht schoben sich an meinen Klamotten vorbei und blickten mich geradewegs an. Erneut miaute sie.
   "Moon?!", stieß ich erschrocken aus.
   "Du trägst eine Katze mit dir rum?", fragte Viktor irritiert.
   Castiel baute sich wütend auf. "Du hast dieses Mistvieh mitgenommen?!"
   "Hab' ich nicht!", rechtfertigte ich mich hastig. Dann leiser: "Also, nicht absichtlich. Sie muss sich in meinen Rucksack geschlichen haben, als ich nicht hingeschaut habe. Und dann habe ich wohl blind meine Klamotten auf sie rauf gelegt, als ich den von ihr umgeschubsten Inhalt wieder eingeräumt habe. Sie hat dabei keinen Mucks gemacht, sonst hätte ich sie sicherlich bemerkt!"
   "Schmeiß' das Vieh aus'm Fenster, dann ist endlich Ruhe!"
   "Hackt's bei dir?!", entfuhr es mir wütend.
   "Und dir ist das zusätzliche Gewicht nicht aufgefallen?", fragte Nathaniel verwundert, aber ruhig, um die Situation nicht weiter einzuheizen.
   Ich sagte nichts, denn ich konnte diese Frage weder mit "Doch" noch mit "Nein" beantworten. Ja, mein Rucksack war schwerer, aber unwesentlich, ich dachte, das läge vielleicht an der zusätzlichen Kleidung, die ich aus der fremden Wohnung hab mitgehen lassen. Moon war für eine Maine Coon Katze eines der eher kleinen Exemplare und als Weibchen ohnehin von Natur aus leichter als ihre männlichen Artgenossen. Sie wog vielleicht dreieinhalb bis vier Kilo und ich war vom Wandern schon weitaus mehr Gewicht auf meinem Rücken gewöhnt, als ich derzeit selbst samt Katze bei mir hatte. Ich hatte einfach nicht weiter darüber nachgedacht, wir waren schließlich auch fast augenblicklich aufgebrochen, nachdem meine Sachen gepackt waren. Und die ganze Zeit über hatte sie in meiner Tasche ausgeharrt und nicht mal einen Mucks von sich gegeben. Entweder war sie fest am schlafen - was ich nicht glaubte, denn Katzen hatten nur einen festen Schlaf, wenn sie sich an einem Ort befanden, an dem sie sich sehr wohl und sicher fühlten - oder sie war so intelligent, zu wissen, dass es ihren Tod bedeuten könnte, wenn sie nicht still in ihrem Versteck blieb. Aber konnten Katzen wirklich so intelligent sein und so weit im Voraus ihr Handeln planen? Ich war überfordert mit der Situation und konnte es einfach nicht verstehen.
   Moon schmiegte sich gurrend in meine Handfläche, die ich ihr entgegen streckte, und kraxelte dann aus meinem Rucksack raus und an mir hoch, als hätte sie mich seit Ewigkeiten nicht gesehen und Angst gehabt, es auch nie wieder zu tun. Ich verstand immer weniger, was geschah, ließ jedoch meine Hände in ihr dichtes, weiches Fell gleiten und kraulte ihre warme Haut. Meine Augen brannten bei dem Versuch, die aufkommenden Tränen zu verhindern. Sie war mir so sehr ans Herz gewachsen, egal wie sehr ich es hatte verhindern wollen. Ich war von Anfang an machtlos dagegen gewesen.

Wir hatten uns dazu entschieden, Moon nicht aus dem Fenster zu werfen. Wir würden sie behalten und im Rucksack transportieren, das hatte ja bisher schon ganz gut geklappt. Allerdings würden wir damit nicht nur nach Nahrung für uns Menschen Ausschau halten müssen, sondern auch für eine Katze. Ihr Glück war aber, dass sie gegebenenfalls auch selbst jagen konnte, das hatte sie die letzten drei Wochen schließlich auch über Wasser gehalten. Da wir uns nun allerdings in einer Wohnung im vierten Stock befanden, suchte ich die Wohnung nach etwas Essbaren für die Katze ab. Hier waren aber keine Katzen Zuhause gewesen, sondern Hunde, weshalb ich skeptisch das Hundefutter in meiner Hand betrachtete. Katzen waren keine Hunde, auch die sogenannte "Hundekatze" nicht, wie die Maine Coon gern mal bezeichnet wurde. Ihr Magen vertrug weniger als der der Hunde. Trotzdem gab ich ihr den sehr fleischhaltigen Doseninhalt und hoffte das Beste.
   Nachdem sich die Gemüter beruhigt hatten, und wir noch einige Zeit lang beisammen saßen und miteinander geredet hatten, bis auf die Taschenlampe in vollkommener Dunkelheit und dem Geräusch von Regen gehüllt, legten wir uns irgendwann schlafen. Alles in diesem Haus roch alt und muffig, doch Moon kuschelte sich zu mir auf den provisorischen zusammengeschobenen Schlafplatz aus Hundebetten und erleichterte mir mit ihren beruhigenden Herzschlägen und ihrer Wärme so ungemein das Einschlafen.
   Sehr viel hatte ich davon allerdings nicht. Kaum waren meine Augen geschlossen, wurde ich gefühlt auch schon wieder aus dem Schlaf gerissen, als jemand an meiner Schulter rüttelte.
   "Wach auf, Kyra. Es ist schon spät."
   Verschlafen kniff ich meine Augen zu und versuchte gegen das Licht zu erkennen, wer die Frechheit besaß, mich aus meinem wohlverdienten Schlaf zu reißen. Es war Nathaniel.
   "Wie geht das, ich bin doch gerade erst zu Bett gegangen...", murmelte ich und gähnte demonstrierend. "Wie spät?"
   "Halb 11 etwa."
   Ich hatte wirklich überhaupt keine Lust, aufzustehen. Am liebsten würde ich für immer auf diesen muffigen Hundebetten liegen bleiben, bis ich nichts mehr spürte, aber ich wusste, das stand nicht zur Debatte. Also richtete ich mich mühsam auf. Die anderen waren schon auf den Beinen und Moon ging dem Rotschopf wieder auf den Zeiger. Solange er sie nicht aus dem Fenster warf...
   Viktor kam zu mir und wünschte mir einen guten Morgen. "Iss was und dann kann es weitergehen", fügte er hinzu. Ich seufzte.

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