Special - Herbstanfang

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Ich hatte es leider wegen des realen Lebens nicht pünklich zur Tag- und Nachtgleiche (22. September) geschafft. Sorry for that, aber letztendlich habe ich es dann ja doch mit Verspätung geschafft. Yay. Here you go.
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"Du hast was getan?", fragte ich ungläubig, konnte aber nicht anders und musste lachen. Dieser Typ war einfach unverbesserlich.
   Lysander schaute so lange bedröppelt rein, bis ich mich einkriegte und ihn mitfühlend ansah.
   "Na gut, du hast jetzt einmal vergessen, die Käfigtür wieder zu schließen, aber ist das auch gleich ein Grund, ihn zu deinen Eltern auf den Hof zu bringen?"
   Der Silberschopf betrachtete mich mit skeptischem Blick. "Wie lange kennen wir uns nun schon?"
   "Hm", grübelte ich. "Bisschen mehr als zwei Jahre?"
   "Genau. Genug Zeit, um zu wissen, dass das wohl leider nicht zum ersten Mal passiert wäre."
   Ich seufzte und schaute zum Kanichenkäfig, in dem Cuddles in einer Ecke saß. Ihm schien es nicht so gut zu gehen. Nachdenklich ging ich zu ihm herüber.
   "Du bist wahrlich zerstreut, das stimmt schon."
   Leise öffnete ich die Käfigtür, doch die sensiblen Ohren des kleinen Geschöpfes hörten es trotzdem. Vorsichtig tapste es zu mir, schnupperte an meinem Finger, ehe ich es sanft auf meine Arme hob.
   "Und wenn wir ehrlich sind, irgendetwas hättest du eh ändern müssen. Kaninchen darf man nicht alleine halten. Nicht wahr, kleiner Mann? Vermisst du deine Artgenossen?" Meine Finger fuhren immer wieder von seiner Stirn zwischen seinen Ohren über seinen Körper. Es war ultra niedlich, wie er dabei genießerisch die Augen geschlossen hielt und sich an mich schmiegte.
   "Bei meinen Eltern wird es ihm gut gehen. Viel Platz und ganz viele Freunde zum Schmusen", bestätigte mein bester Freund.
   Ich fragte ihn, wann er ihn hinbringen wolle und bekam das kommende Wochenende als Antwort. Was logisch war, da seine Eltern recht weit weg wohnten und es sich nur am Wochenende lohnte, sie zu besuchen. Hoffentlich hatte der kleine Mann in meinen Armen auch bis dahin die Geduld und die Nerven.
   Etwas besorgt wandte ich mich dem Silberschopf zu und fragte: "Soll ich solange hier bleiben und darauf achten, dass du nicht wieder irgendwas bei Cuddles verschusselst?"
   "Hier bleiben? Du meinst, die nächsten Tage hier zu bleiben?"
   "Wenn es dich nicht stört, natürlich. Ich weiß nur nicht, ob Leigh da immer ein Auge drauf haben kann, wo er doch derzeit wieder so viel arbeitet."
   Lysander schüttelte den Kopf. "Natürlich würde mich das nicht stören. Aber was würde dein Vater davon halten? Und ist es aber nicht sehr umständlich für dich, von hier zur Schule zu kommen?"
   Einen Moment lang dachte ich darüber nach. Vor allem dachte ich an sämtliche U-Bahn- und Busverbindungen zwischen Boston und Somerville, die mich zur Schule und zurück bringen könnten. "Mein Papa sollte kein Problem sein, aber ich rufe ihn gleich mal an, um das zu klären. Ich nehme aber mal an, dass er einverstanden sein wird und mir meine Sachen vorbeibringt und Shiva mit nach Hause nimmt. Wahrscheinlich muss ich nach der Schule aber immer kurz nach Hause, um mit Shiva eine Runde zu laufen, würde dann jedoch wieder hierherkommen. Also ja, ein bisschen umständlicher ist das schon." Ich machte eine Pause, stemmte eine Hand in die Hüfte und schaute ihn heroisch an. "Aber für das Wohl eines Tieres würde ich vieles in Kauf nehmen!"
   Der Silberschopf lachte.
   "Für deins übrigens auch", zwinkerte ich ihm zu, woraufhin er etwas rot wurde, aber noch immer lächelte. Dann ließ ich das schwarz-weiße Kaninchen herunter und griff nach meinem Handy.

Es war etwa halb sechs Abends, als ich entschied, mit Shiva noch eine Runde zu gehen. Obwohl sie schon sehr alt war, stolze 13 einhalb Jahre, nahm ich sie noch immer fast überall hin mit. Sie war wie ein Teil von mir, der immer dabei sein musste und auch dabei sein wollte. Nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, dass wir sie schon hatten, als sie noch ein kleiner Welpe war. Nun aber war sie groß, weiß um die Schnauze und lahmte ein wenig. Ich erwischte mich immer öfter bei der Frage, wie lange wir sie noch haben würden, wie lange ich mich noch ihrer Gesellschaft erfreuen durfte. Und jedes Mal war es wie ein Stich ins Herz, zu brutal, um mich länger mit der Frage zu befassen, doch mit jedem weiteren Tag leider auch immer realistischer. Ich wusste, dass es der normale Kreislauf des Lebens war, aber... ich wusste auch, wie schmerzhaft dieser sein konnte.
   "Möchtest du sie halten?", fragte ich Lys nach einigen schweigsamen Minuten, was ihn aus einer Art Tagtraum zu reißen schien. Sanft lächelte er mich an und nahm mir die Leine ab. Natürlich wollte er sie halten. Er wartete doch jedes Mal praktisch nur auf diese Frage, obwohl ich ihm schon so oft gesagt hatte, dass er auch einfach selbst darum bitten könnte. Shiva selbst hätte damit wohl noch das geringste Problem, so gern wie sie ihn hatte. Aber nein, er war und wird wohl immer eigen bleiben, bei einigen Dingen sogar noch mehr als ohnehin schon.
   "Wann nochmal wollte dein Vater Shiva abholen?", riss nun der Silberschopf mich aus meinen Träumereinen. Leicht schüttelte ich den Kopf und wunderte mich schon gar nicht mehr, warum er nach so kurzer Zeit diese Information schon wieder vergessen hatte. Sich darüber noch zu wundern wäre pure Zeitverschwendung.
   "Um 20 Uhr etwa bei dir. Also mehr als genug Zeit für einen entspannten Spaziergang bei diesem herrlichen Wetter im Back Bay Fens." Demonstrativ streckte ich ich mich und schaute in den blauen Himmel. Obwohl heute die Tag- und Nachtgleiche war, ab morgen die Nächte also traurigerweise länger waren als die Tage, hatten wir derzeit noch mal richtig schönes Spätsommerwetter mit über 20°C und ich hoffte inständig, dass dieses auch noch ein paar weitere Tage anhielt. Vielleicht spielte dabei die Tatsache, dass Lysander bei solch einem Wetter "angemessener" gekleidet war, auch eine kleine Rolle. Verschmitzt sah ich ihn von der Seite an. Er war so ein schöner Mann und er sah so süß aus, wie er mit diesen wirren Haarsträhnen und diesem sanften Lächeln meinen Hund durch den Park in Nähe seines Hauses führte. Warum konnte ich nicht einfach für ihn romantische Gefühle entwickeln? Er wäre mit Sicherheit der richtige. Schon allein sein Herz aus purem Gold spräche dafür. Doch leider gingen die Gefühle nicht über platonische Freundschaft hinaus...
   Als es unter meinem Fuß knisterte, wurde meine Aufmerksamkeit vom Silberschopf auf den Boden gelenkt.
   "Menschen sind widerlich", gab ich säuerlich von mir. "Warum müssen sie ihren Scheißmüll immer überall hinwerfen?" Ich sah mich um und unweit von mir entfernt entdeckte ich einen Mülleimer. "Weil es sooo schwer ist, noch zwei Schritte mehr zu gehen. Aber wer soll's denen verübeln, jeder zweite geht ja bekanntlich in die Breite."
   Augenrollend kramte ich in meiner Handtasche nach den Gummihandschuhen, die ich tatsächlich für solche Fälle immer dabei hatte, zog einen über und schmiss den Abfall in den Mülleimer. Und direkt auch noch den Mist, den die Leute NEBEN den Mülleimer geschmissen hatten. Warum war man so?!
   "Du sammelt wieder gutes Karma", bemerkte eine Stimme neben mir und erst dann bemerkte ich, dass mir Lys gefolgt war. Shiva machte neben ihm Sitz und betrachtete misstrauisch den Müll in meiner behandschuhten Hand. Sie kannte es nur zu gut, wie ich diesen des Öfteren wegsammelte und verstand diesbezüglich auch mit Sicherheit, wie schädlich er war.
   "Gib' mir was davon ab", bat er schmunzelnd und hielt eine seiner Hände offen zu mir hin, in die ich meinen anderen Handschuh legte. Gut für ihn, dass ich welche in XL mit mir herumtrug. Und so schlenderten wir weiter durch den Park, langsam, wegen meiner alten Hündin und wegen des Abfalls, den wir hin und wieder mit aufsammelten. Als uns ein älteres Pärchen entgegenkam, erst verwundert durch einen anscheinend allein herumstreunenden Hund, weil Lysander und ich irgendwo abseits der Wege nach Müll fischten, Shiva aber brav auf diesem blieb, kam es für sie kein Halten mehr.
   "So jung und so engagiert!", freute sich die ältere Dame. "Hach, wenn es doch nur mehr von eurer Sorte gäbe."
   Mein bester Freund wirkte verlegen. Ich bewunderte die wirren Haarsträhnen, die durch die ganze Bewegung nun noch wirrer in seiner Stirn lagen.
   Er beschwichtigte: "Danke, werte Frau, aber ich denke, dass es durchaus einige von dieser Sorte gibt."
   Es war so typisch für ihn, das, was er war und tat, als nichts Besonderes zu sehen. "Du musst nicht so gutgläubig sein, Lys. Es ist ein Fakt, dass es leider viel zu viele Menschen gibt, die sich einen Dreck um die Umwelt, Tiere und/oder andere Menschen scheren." Ich schnalzte mit der Zunge und dachte kurz an verschiedenste Missstände, die allein schon in den Vereinigten Staaten existierten. Menschen waren widerlich und brutal.
   "Genau deshalb ist aber jeder einzelne engagierte Mensch so wichtig! Und vor allem ihr jungen Leute. An euch hängt so viel ab. Wir Alten können ja leider nicht mehr so viel tun..."
   "Elisabeth... Texte die Kinder doch nicht so voll." Der Mann der Dame fasste ihr an die Schulter und sah sie liebevoll an. "Ich glaube nicht, dass sie das Geschwätz von so alten Leuten interessiert."
   Ich schielte zu meinem Begleiter herüber, der sich freundlich und höflich, wie er war, weiter mit den beiden unterhielt. Interessanterweise konnte er sich mit älteren Menschen leichter unterhalten, als mit welchen seines Alters. Ich hingegen hatte bei sämtlichen Altersgruppen, ausgenommen Kinder, so meine Probleme damit, weshalb ich ihm größtenteils das Reden überließ. Später stellten wir ihnen auch Shiva vor, von der besonders die Frau ganz angetan war. Sie erzählte uns von ihrem Hund, der ähnlich steinalt wie meinet war. Alles sehr interessant und so. Irgendwann wollte ich dann aber auch wirklich weiter und formulierte eine möglichst flüchtige, aber flüssige Entschuldigung zum Weitergehen.
   "Ach, Kinder", meinte sie noch einmal, als wir uns eigentlich schon verabschiedet und zum Gehen gewandt hatten. Was denn jetzt noch, fragte ich mich schon beklommen.
   "Wenn ihr sowieso an dem Kriegs-Denkmal vorbeikommt, könntet ihr vielleicht auch dort den groben Müll beseitigen? Es ist eine Schande, wie unsere Ahnen beschmutzt werden. Mein Vater würde sich im Grabe umdrehen!"
   Erneut griff ihr Ehemann leise ein: "Elisabeth..." Dann waren sie auch verschwunden. Ich sah mich hingegen verwundert um, nur um festzustellen, dass wir tatsächlich in die Richtung des Denkmals gelaufen sind und schon ganz in der Nähe waren. Eigentlich müsste es... Da! Von hier konnte man schon die leichten Umrisse davon erkennen. Nun stellte sich mir allerdings die Frage...
   "Warum haben sie den Mist denn nicht selbst entsorgt?" Ich fragte das mehr für mich, als irgendwen anderen, vergaß jedoch fast, dass Lysander ja auch noch hier war.
   "Sie waren alt. Vielleicht der Rücken."
   Ich brummte überlegend. Möglich, stimmt.
   Wir setzten unseren Weg fort Richtung Denkmal. Die Uhr zeigte mittlerweile kurz vor sieben, allzu viel Zeit hatten wir also nicht mehr. Als wir dann nach einigen Minuten beim Monument ankamen, verstand ich fast augenblicklich, wovon die Frau sprach. Hier und dort lagen besonders Plastikflaschen, Servierten und Tüten von Fast-Food-Ketten herum, am Vietnam-Denkmal wurden sogar zwei große schwarze, doch vor allem volle Säcke abgestellt und einfach dort gelassen. Widerlich.
   Wegen der mangelnden Zeit beseitigten wir nur den groben Abfall. Erst dann nahm ich mir die Zeit, das Denkmal wirklich unter die Lupe zu nehmen. Ich war hier erst zwei Mal oder so, dann aber vielmehr nur vorbeigelaufen, als dass ich es mir richtig angesehen hätte. Nun ging ist bewusster auf den großen bronzenen Engel zu, der mit einem Schwert in den Händen auf einem Sockel trohnte und dessen Flügel augenscheinlich den Obelisk umarmten, vor dem die Statue stand. Gegenüber von diesem Engel war in einigen Meter Entfernung ein etwas kleinerer Sockel mit einem Pult angebracht. Aus Neugier trat ich näher daran heran, verzog beim Anblick der Pultoberfläche dann jedoch das Gesicht.
   "Bah, wer macht sowas? Widerlich." Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft ich das heute schon gesagt oder gedacht hatte, bei diesem widerlichen grünen Rotz, was auch immer es sein mochte, dass das Pult "zierte", fiel mir aber wirklich nichts anderes mehr ein. Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder davon ab und ging nun hinter den Bronzeengel. Eine riesige Granitwand erstreckte sich leicht nach innen gebogen über die Erhebung, auf der das gesamte Denkmal stand. Unwahrscheinlich viele Namen standen in gelblich-goldener Schrit auf schwarzen Tafeln, die in die Wand eingelassen wurden.
   "In Gedenken an die Männer und Frauen von Boston, die im 2. Weltkrieg ihr Leben ließen", las ich laut die große, bronzene Überschrift des Monuments vor. Erneut schaute ich mir die Namenstafeln an und ein mulmiges Gefühl überkam mich. All diese Menschen, gestorben während eines brutalen Krieges aus niederen Beweggründen. Und das allein in Boston, wobei die Dunkelziffer mit Sicherheit nochmals höher war. Ich drehte mich um, konnte gerade so noch die Überschriften der kleineren Korea- und Vietnamdenkmale am anderen Ende des Platzes lesen. Ich erinnerte mich daran, wie glücklich wir darüber sein konnten, zu diesen Zeiten zu leben. Wir hatten nur unsere Luxusprobleme. Krieg gab es höchstens zwischenmenschlich, wenn jemand meinte, seine Luxusprobleme seien wichtiger, als die von anderen. Richtigen Krieg gab es bei uns nicht mehr, der wurde überwiegend in den Ländern ausgetragen, die wir "dritte Welt" nannten. Aber kümmern tat uns das nicht wirklich, war ja alles schön weit weg.
   Ich seufzte und betrachtete die Namen vor mir genauer. Die hier begonnen mit L und M. Unter McConnor war niemand dabei, stellte ich fest. Sonst hätte ich aber wahrscheinlich auch schon irgendwelche Geschichten gehört.
   "Ganz schön viele McDonalds dabei", bemerkte ich, schwenkte meinen Blick dann leicht nach rechts. "Und noch mehr McDonoughs."
   Ich richtete mich wieder auf, da ich mich unbewusst etwas nach vorne gebeugt hatte, um die Namen besser lesen zu können. Erst dann fiel mir auf, dass Lys gar nicht mehr bei mir stand, sondern sich ganz links der Granitwand die Namenstafeln ansah. Dort waren die Namen mit A und B. Suchte er nach... Ainsworth?
   Bevor ich zu neugierig werden und zu ihm herübergehen konnte, wandte er sich den Tafeln schon ab und kam zu mir wieder herüber. Sein Gesicht war unleserlich für mich. Aus Reflex nahm ich seine Hand und lächelte ihn an.
   "Es wird spät, wir sollten wieder nach Hause gehen."
   Ich nahm seinen beziehungsweise meinen Handschuh wieder an mich und steckte diesen mit dem anderen zurück in meine Handtasche. Dann stupste ich sanft mit dem Fuß gegen meine Sheltie-Hündin, die seit Ewigkeiten neben dem Obelisken döste und gemeinsam machten wir uns wieder auf dem Heimweg.

Endless DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt