Zur Salzsäule erstarrt, starrte ich auf die Brücke vor mir. Oder was sie eins mal darstellen sollte. Denn nun erinnerte mich das Chaos darauf nur mehr an einen Schrottplatz, als an eine Überführung. Teile der Brücke waren kaputt, wahrscheinlich durch die Crashs. Zumindest vor mir befanden sich Barrikaden, dahinter Reihenweise von kollidierten Autos, aber auch weitestgehend unversehrten. Ein Durchkommen mit zwei Fahrzeugen war unmöglich. Selbst das Durchkommen von einzelnen Personen hätte sich da äußerst schwierig gestaltet. Besonders... da ungefähr mittig der Brücke ein paar dezent ungepflegte Freunde von ihnen nur darauf zu warten schienen, dass wir uns zu ihrer Barbecue-Party gesellen. Hatten sogar extra Feuer in einem Auto dafür gemacht. Eigentlich war das doch ziemlich nett von denen, oder?
Frustriert stampfte ich wie ein trotziges Kleinkind auf den Boden. Wie gern hätte ich gegen den Blechschrott getreten, der nur wenige Meter von mir entfernt lag, mit meinem Golfschläger gegen geschlagen, sonst was, aber wer kannte schon den Hörradius unsere Kollegen auf der Brücke?
"So ein verdammter... Mist!" Ich musste mich zusammenreißen, nicht lauthals die Gegend zusammen zu brüllen. Doch je mehr ich mich zurück zu halten versuche, desto stärker wurde die Aggression und Zerstörungswut in mir. Da hatte man ein verschissenes Mal eine Apokalypse am Hals und schon funktionierte einfach gar nichts mehr!
Ich atmete einmal tief durch, um mich zu beruhigen. Wenigstens ein kleines bisschen. Sich aufzuregen brachte jetzt nicht besonders viel. Ich brauchte einen kühlen Kopf.
Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der in der offenen Tür seines Autos stand. Er sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an. Und auf den zweiten Blick schien er auch nicht wirklich mich anzusehen, sondern eher durch meinen Körper hindurch zu blicken. Laeti saß im Wagen, ihr Blick auf ihre Finger gerichtet mit denen sie womöglich angespannt spielte. Ich wusste es nicht. Ich konnte es ja nicht sehen.
„Lasst uns gehen. Wir müssen einen anderen Weg finden", meinte ich und ohne ein weiteres Wort schwang ich mich wieder auf mein Motorrad und startete den Motor. Es galt keine Zeit mehr zu verlieren. In ein paar Kilometer gab es eine andere Brücke, kleiner als diese und weniger bekannt. Ich wusste, dies war eine große Stadt und wenn alle Überlebenden zu fliehen versuchten, würden sie auch alle Wege nutzen, die sie konnten, so auch die andere Brücke, doch wir hatten keine Wahl. Wir mussten es versuchen.Auf der Fahrt dachte ich an nichts. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand alle Sachen, die dort herumstanden, dieses Chaos, aufgesammelt und wie eine wütende Ex-Freundin aus dem Fenster geworfen. Alles, bis auf eine Sache; Eine Erinnerung an das Gesicht meines Vaters. Ich wusste nicht mehr wann ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, mein Zeitgefühl war futsch, aber ich sah ihn ganz klar vor meinem inneren Auge. Ich dachte nicht an ihn, nein. Es war anders, ich sah ihn und wusste: Das war mein Ziel.
Irgendwann konnte ich die Brücke von Weitem ausmachen. Auf den ersten Blick hin schien es möglich, diese zu überqueren, aber ich wollte vermeiden, mir unnötig Hoffnungen zu machen, die eventuell eh wieder hart auf den Boden der Realitäten klatschten. Ich musste aber zugeben... das war echt schwerer, als gesagt.
Auch auf dieser Brücke standen Autos. Auch auf dieser Brücke suchten sich Infizierte einen Angelplatz. Soviel zu den schlechten Neuigkeiten. Die gute Neuigkeit war, dass die Brücke nicht ganz so verbarrikadiert war, wie die Große von vorhin. Es sah tatsächlich aus, als sei ein Durchkommen mit einem Auto möglich, einem Motorrad sowieso. Mit einem Mal, und ohne das ich das hätte verhindern können, schöpfte ich wieder Hoffnung, schon bald meinen Vater sehen und umarmen zu können. Auch, wenn das hieß, an wankelmütigen Kreaturen vorbei zu müssen.
Ich drehte mich mit dem Oberkörper um, suchte den Blick meines Bruders. Dieser saß noch im Auto, nur wenige Meter hinter mir. Ich deutete ihm mit den Fingern, mich anzusehen und dann auf die Brücke. Dann machte ich ein paar Gebärden, auf die er antwortete. Warum wir Gebärdensprache konnten? Wegen gehörlosen Bekannten, für die wir uns diese extra angeeignet hatten. Jetzt waren diese Bekannten wahrscheinlich tot und die stumme Kommunikation praktischer denn je.
Meinen Golfschläger einsatzbereit zur Hand nehmend, startete ich wieder den Motor. Langsam fuhr ich auf die Brücke. Obwohl es schon mehr an rollen glich. Ich hörte, wie mir John folgte, ebenso langsam wie ich. Schnell fahren wäre eh nicht möglich gewesen, an die Straßenverkehrsordnungen hielt man sich hier schließlich auch nicht mehr. Überall parkten die Spinner, als hätten sie ihren Führerschein aus einem Spieleautomaten geangelt.
In noch einiger Entfernung blieb ich dann wieder stehen. Die Monster hatten uns noch nicht bemerkt. Der Großteil war damit beschäftigt, Eingeweide aus einer Leiche zu reißen und dabei die Umgebung einzufärben, wie wir es früher getan hatten. Lediglich mit Straßenkreide. Ein paar weitere schienen um sie herum zu patrouillieren. Automatisch stellte ich mir die Frage, ob diese Dinger einen gewissen Sinn für Organisation besaßen. Dass ein Teil der Gruppe von der Beute fraß, während ein anderer Wache hielt, zeugte von taktisch animalischen Zügen. Vielleicht wirkten sie nur unglaublich dumm. Vielleicht war ihre Lust auf menschliches Fleisch nur so unglaublich hoch, dass sie einfach keine Wahl hatten, es sich auf brutale Art und Weise aneignen zu wollen. Aber vielleicht waren sie dennoch menschlich noch zu retten. Mit den richtigen Mitteln. Wie man auch eine Grippe besiegen konnte.
Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Leonie... Nein. Auch eine Grippe konnte man nicht immer besiegen. Manchmal zeigte sie dir den Mittelfinger und machte dann, was sie wollte. Dazu zählte auch, kleine Mädchen zu töten. Für Leonie bestand keine Hoffnung mehr, gerettet zu werden. Ich hatte es in ihren Augen gesehen. In ihren Augen gab es nichts, was man noch hätte retten können.
Ich wies John an, aus dem Wagen zu steigen. Während er der Aufforderung folgte, stieg ich selbst von meinem Fahrzeug ab und stellte es sicher hin. Alles natürlich so leise wie möglich. Wir wollten schließlich die Überraschungsparty nicht zu früh ankündigen. Obwohl mir irgendetwas sagte, dass sie nicht unbedingt zu der Sorte gehörten, die Überraschungen mochten. Aber gut. Das war gerade wirklich mein kleinstes Problem. Meine größte Sorge war derzeit eher, dass es auch wirklich eine Überraschung wurde. Denn andernfalls hatten wir ein kleines, klitzekleines Problem.
In Sichtschutz eines verlassenen Autos hockten ich und mein Bruder uns auf die Erde. Den Golfschläger fest an die Brust gedrückt, atmete ich mehrmals so leise wie möglich tief ein und aus. Mein Herz schlug mir so schmerzhaft gegen den Brustkorb, als ob es schnellstmöglich so weit weg wie möglich laufen und niemals wieder zurück kommen wolle. Ich befürchtete, diese Option stand nicht zur Debatte.
„Wir müssen uns anpirschen", flüsterte ich John zu, versuche dabei meine Angst zu verstecken. Ich war mir sicher, er spürte sie dennoch nur zu gut.
„Ich bin direkt hinter dir."
Somit schlüpften wir von einem Versteck zum anderen und ich war ernsthaft sehr von mir selbst überrascht, dass ich dabei keinen aus reiner Tollpatschigkeit resultierenden Krach veranstaltete, der das Ende für uns bedeutet hätte. Bis wir schließlich wieder im Schutz eines Autos hockten, direkt dahinter konnten wir das Röcheln eines Infizierten vernehmen. Die Angst verkrampfte meine Muskeln. Ein Fehler und wir wären so gut wie tot.
Durch die Räder hindurch beobachteten wir, wie die Patrouillen-Viecher sich bewegten und warteten auf einen günstigen Moment. Als sich der direkt hinter unserem Versteck uns den Rücken kehrte und auch die anderen nicht in unsere Richtungen blickten, schlich mein Bruder fix um das Auto, stach dem Infizierten in den Kopf, legte ihn leise auf den Boden und kam schnell zu mir zurück. Es ging so schnell, dass es mir fast nicht möglich war, Todesangst um das Leben meines Bruder zu entwickeln. Fast.
Ich bemerkte erst, dass ich vor Anspannung die Luft angehalten hatte, als mir kurz vor Luftmangel schwindelig wurde. Gut. Einer erledigt, fehlten noch vier. War doch ein Klacks.
Keine Ahnung, wie wir das schafften, aber nach kurzer Zeit waren auch die anderen zwei Patrouillen erledigt, ohne dass uns die beiden am heute sehr fleischhaltigen Buffet bemerkten. Auch wenn die vor Eiweiß nun nur so strotzen mussten, war es uns sicher ein leichtes, sie auch noch auszuschalten, so, wie die mit ihrem Mahl beschäftigt waren. Das Schwierigste hatten wir tatsächlich mit den Kollegen eben hinter uns. Oh Gott...
„Und los geht's", murmelte ich zu mir selbst und bewegte mich auf die Infizierten zu. John tat es mir wenige Meter seitlich von mir gleich, damit wir beide gleichzeitig ausschalten konnten. Einer kniete mit dem Rücken zu mir, der war kein Problem, der andere allerdings saß seitlich und entdeckte mich hoffentlich nicht.
Dann zerplatzte die Blase der Hoffnung. Das Ding, dass seitlich zu mir saß, drehte auf einmal den Kopf, schaute direkt in mein Gesicht. Stocksteif blieb ich stehen. Mein rasendes Herz brachte meine Schläfen zum Pochen. Ich wagte es nicht einmal, auch nur den kleinsten Muskel zu bewegen. Die furchtbar naive Hoffnung, gemischt mit Todesangst, ließ mich kurz am Gedanken festhalten, er würde mich nicht sehen, mich nicht beachten, einfach weiter genüsslich und ohne Manier den Leichnam zerfetzen. Doch das Glück hatte mich schon seit geraumer Zeit verlassen. Die blutverschmierte Kreatur stieß einen unschönen, unappetitlichen und mit einer Menge weiterer un-Wörter beschreibenden Laut aus, der seinen Kollegen alarmierte. Fuck.
„John, schnell!"
John schaffte es nicht, so schnell an die Kreatur heran zu kommen, sie war schon auf mich los gegangen. Darauf war ich nicht vorbereitet und noch in meiner Hocke warf mich der Infizierte um. Verzweifelt versuchte ich, mit meinem Golfschläger an seinem Hals, ihn davon abzuhalten, seine Zähne in mein Fleisch zu schlagen, ihn von mir runter zu schubsen oder zumindest die Stange des Schlägers so kräftig in seinen Hals zu drücken, dass er in die Haut schnitt und im besten Fall den Kopf abtrennte. Doch ich schaffte es nicht. Ich war zu schwach. Das blutspuckende, röchelnde Gesicht kam meinem immer näher, nur minimal drang der Schläger in den Hals. Vor Angst stieß ich einen Schrei aus.
Ein Blutwall schwappte in mein Gesicht und der Körper wurde zur Seite gerissen. Als ich wieder die Augen öffnete, die ich automatisch zusammengekniffen hatte, erkannte ich meinen Bruder über mir, sein blutiges Messer in der Hand. Mein Angreifer lag mit einem Loch im Kopf regungslos am Boden. Er hatte mich gerettet. John hatte mich schon wieder gerettet. Er musste mich schon wieder retten, weil ich zu schwach war. Weil ich mich nicht wehren konnte. Ich war eine Last. Schlicht und ergreifend eine Last und sorgte nur für Probleme.
Mit größter Mühe versuchte ich, die Tränen der Scham, denen ich nahe war, zurückzuhalten. Wenn ich jetzt auch noch anfing, zu flennen, würde ich auch noch das letzte Kriterium einer nutzlosen, wehrlosen Last erfüllen. Das durfte ich nicht zulassen, ich durfte es einfach nicht.
Mein Bruder hielt mir eine Hand hin, doch ich ignorierte sie so, als hätte ich sie nicht gesehen und stand von allein auf. Wenigstens das sollte ich noch hinbekommen.
Einmal tief durchgeatmet und ich fühlte mich wieder imstande, einen geraden Satz herauszubringen. „Die Brücke ist frei. Wir sind fast da, lasst uns weiter fahren."
Ich traute mich nicht, dem Braunhaarigen ins Gesicht zu sehen, also ging ich schnurstracks auf mein Motorrad zu. Als ich mich rauf schwang blickte ich nach vorn, in die Stadt hinter der Brücke. Nur noch ein paar Blocks. Nur noch ein paar. Halte durch, Papa.
Halte durch, Kyra...
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Endless Death
Fiksi PenggemarZwei Menschen, zwei Orte, ein Schicksal. Verdammt, sowas geschah doch normalerweise nur in Horrorfilmen! Doch für Kyra war es brutale Realität geworden. Als Zeugin von Patient 0 floh sie nun gemeinsam mit ihrem Bruder vor der rasant um sich greifend...