Capitolo sessantanove

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Felicia Ricci

Ist es eigentlich möglich, Angst um seinen Vergewaltiger zu haben? Ich meine, als Ian seine Waffe auf ihn gerichtet hat... ich habe Angst gehabt.
Kein Kribbeln auf der Haut oder Adrenalin- nein. Es war viel mehr die nackte Angst, die tief in mir drin saß. Meine Beine wurden schwach, mein Herz raste und ich hätte weinen können.
In mir sind so viele ungeklärte Konflikte. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.
Ich will Aurelio lieben. Gott, ich will sogar seine Frau werden!
Aber ich muss diese ungeklärten Probleme erst lösen.
Wie soll ein Mensch sonst glücklich leben können, wenn ihn ständig alte Leiern verfolgen? Gar nicht. Und das ist mir bewusst geworden.

Ich strecke mich aus und berühre mit meinem Fuß seinen.
Moment mal.
Seinen?
Ich schrecke hoch und starre in sein schlafendes Gesicht.
Das- das glaube ich jetzt nicht!
Ich sagte ihm doch, ich wolle alleine mich beruhigen.
Vielleicht mal daran gedacht, dass er auch aufgebracht war? Dass er sich auch ausruhen möchte? Nicht nur du.
Mein Puls senkt sich sofort wieder. Das stimmt.
Ihm war ja die Panik ins Gesicht geschrieben vorhin. Ich habe in seinen Augen Wut und Hass gesehen. Oberflächlich. Aber er hat mir zum ersten Mal einen tieferen Einblick gewährt. Einblick in seine Seele.
Ich konnte die Tiefe Zuneigung und Angst um mich sehen. Es fiel mir nicht schwer, von Anfang an auf Aurelios Seite zu stehen. Ich konnte Ian sowieso von Anfang an nicht trauen. Dieses Psycho-Gelaber. „Öh ich liebe dich, ich bleibe bei dir" war so eine scheiße. Wer glaubt sowas so einem Kerl, wie ihm?
Niemand.
Aber ich möchte nicht allzu sehr meinen Mund öffnen. Vor nicht so langer Zeit hätte mein naives altes ich ihm alles geglaubt und wäre in sein Käfig spaziert. Und das glücklich und unwissend.
Im Glauben, er würde mich tatsächlich lieben.
Wie lächerlich.
„Bist du schon wach?", flüstert Aurelio und streicht über meinen Rücken.
Meine Nackenhaare stellen sich auf. Seine kurze Berührung elektrisiert mich immernoch, obwohl seine Hand schon wieder weg ist.
Verrückt.
„Mhm", stimme ich ihm leise zu.
„Wir müssen heute einiges klären", beginnt er den Abend zu vermiesen.
Stöhnend lasse ich mich aufs Kissen plumpsen.
Nicht heute. Es ist doch gerade mal paar Stunden her, dass Ian diesen Überfall gemacht hat. Ist uns denn keine Pause gegönnt?
„Ich weiß. Am liebsten einfach schlafen und essen", murmelt er und grinst mich an. Seine weißen Zähne strahlen mich an und aus irgendeinem Grund hellt sich meine Laune auf.
Ich schenke ihm ein sanftes Lächeln.
„Ich habe einen riesen Hunger!", Jammer ich und als wenn mein Bauch mir zustimmen will, knurrt er auch noch laut.
Mein Gesicht läuft rot an. Das war jetzt echt peinlich. Ich konnte es schon nie leiden, wenn in der Schule mein Magen knurrte. Das war immer so laut und jeder hörte es dann. Wollte danach immer am liebsten Nachhause und mich beerdigen. Am schlimmsten war es mitten im Unterricht. In der Stillarbeit. Gott, bin ich froh, dass die Zeiten vorbei sind.
„Du musst mit paar Leuten reden, Feli".
Mein Blick huscht zu seinem kantigen Gesicht hoch. Hat er mich Feli genannt? Ich grinse und aus irgendeinem Grund kuschele ich mich dichter an ihn heran. Plötzlich reiße ich meine Augen auf.
Hat er nichts an??
Ich wage einen Blick nach unten.
Gott sei Dank! Er hat natürlich eine schwarze Jogginghose an. Zwar kein Tshirt, aber das sollte mich nicht stören. Eher bin ich von meinem Gedanken überrascht. Wieso denke ich, dass er sich nackt neben mich legen würde?
Weil ihr Sex hattet.
Danke, Gehirn. Danke für die Erinnerung.
Eine Erinnerung, die ich eigentlich ganz gut verdrängt hatte.
Ok, nein, das habe ich nicht, aber ich wollte sie verdrängen.
Der liebevolle und sanfte Sex mit Aurelio... den könnte ich gar nicht vergessen. Ich sollte ihn verabscheuen für seine folgenden Taten. Aber hat nicht jeder Mensch seine Facetten?
Ich glaube, Liebe kann vieles gut machen.
Vergessen lassen kann Liebe nicht- aber gut machen... darauf hoffe ich. Ich meine, Aurelio ist echt keine schlechte Partie.
„Also ist es okay für dich?", fragt er überrascht und schaut mich mit geweiteten Augen an.
Ich runzle die Stirn.
„Was?"
Er seufzt und lässt seinen Kopf ebenfalls auf sein Kissen fallen.
„Na, dass du mit deinem Vater und Jasper dich aussprichst", murmelt er ins Kissen hinein.
„WAS?!"
Er schnaubt.
Oh, Freundchen, du wirst mir antworten. Wann hat er denn darüber geredet? Ich habe doch nur ganz kurz an unseren Sex gedacht!
Wütend kneife ich ihm in seinen muskulösen Oberarm rein, falls er das überhaupt spüren sollte. Dieser böse Hulk!
„Aurelio!", schimpfe ich.
„Hmm, ich liebe deine liebevolle und sanfte Stimme", witzelt er ironisch und schaut mich endlich an.
Doch statt mir zu antworten, steht er auf und streckt sich lang aus.
„Wie kommst du nur auf meinen Vater?", frage ich weiter. Ich muss zugeben, es trifft einen wunden Punkt. Ich habe mich all die Jahre damit abgefunden, dass er mich verkauft und im Stich gelassen hatte. Ich wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. Es würde nur alte Wunden aufreißen. Das gleiche gilt für Amar und meine Mutter.
Ich habe es akzeptiert und es hinter mir gelassen. Naja, so gut wie man es eben akzeptieren kann, wenn man von seiner Familie verraten wird. Aber ich schätze es sollte so kommen.
Ich bin durch das ganze doch stärker geworden. Klar, das alles forderte eine Menge Opfer. Aber hier stehe ich. In einem Raum mit dem gefürchteten Mafia Boss.
Lebendig.
Wieso sollte ich nach der ganzen Zeit jetzt mit ihm reden? Wozu? Um am Ende wieder gebrochen zu sein? Um sich verlassen und ungeliebt zu fühlen?
Ich brauche ihn nicht mehr. Er hat seine Vaterpflichten vor langer Zeit vernachlässigt. Gutmachen ist schon lange zu spät. Er soll mit dieser Last sterben. Sie alle.

„Es tut mir leid", murmelt er und atmet laut aus.
„Es ist nur... ich will endlich mit dir nach vorne blicken können. All diese Sachen... die sind ungeklärt, Liebes. Das wird uns immer verfolgen. Ian ist weg, die Botegas tot... lass es uns endlich endgültig beenden", bittet er mich aufrichtig.
Ich lasse nachdenklich meinen Kopf hängen.
„Er wird gleich da sein", flüstert er.
Wieso habe ich das schon befürchtet? Das ist typisch für Aurelio. Nach einer Bombe direkt die nächste platzen lassen.
Also.
Aurelio zustimmen und alles ungeklärte beseitigen, oder weiter mit ihm diskutieren und alles verleugnen. Ich glaube, es ist klar.
„Na gut", seufze ich und nicke langsam.
Er kommt auf mich zu und streichelt mit behutsam über mein Gesicht.
„Das ist die richtige Entscheidung, Liebes. Geh doch fertig machen. Ich richte die Schutzmaßnahmen unten ein", murmelt er in meinen Haaransatz hinein und küsst mich auf die Stirn.
Mein Herz schlägt schneller.
Soll ich es ihm sagen?
Er wendet sich ab und geht durch die Tür langsam.
Mein Mut verlässt mich.
Ich sage es ihm nicht.
Nicht jetzt.

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