Geister

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Weiß. Alles war weiß. Weiß wie die ersten Blüten des Frühlings. Rein wie die Unschuld eines kleinen Kindes. Hell wie die Sonnenstrahlen eines frischen Sommermorgens. Blendend wie der Mond, der jede Nacht über dem Meer aufging. Strahlend wie die Sterne an der Himmelskuppel. Weiß wie seine verblichene Haut. Sie starrte auf einen schwarzen Punkt, der langsam auf sie zukam. War das hier der Himmel? Wenn ja, dann war sie hier falsch. Sie verdiente nur die Hölle. Es sollte alles schwarz sein. Feurig. Heiß. Voller Schmerz und Leid. Verdienter Leid. Menschen waren wegen ihr gestorben. Und sie bereute es nicht. Sie hätte nicht einen besseren Lebensweg einschlagen können... Warum war sie also hier? Der schwarze Punkt wurde immer größer. Eine Träne. Salzwasser wie das was sie jetzt wahrscheinlich auch umgab. Nein, nicht sie. Ihren Körper. Toter Körper. Leere Hülle, ohne Leben, ohne Seele. Warum musste ihr Leben genau dann ein Ende nehmen, wenn es doch geradeerst perfekt geworden war? Für ein paar Minuten hatte sie alles gehabt. Alles was sie jemals hatte haben wollen. Und jetzt wurde es ihr wieder genommen... Er war weg, sie war tot. Und er wusste es nicht mal... Was würde er tun, wenn er davon erfuhr? Würde er sie vermissen, würde er sich jedes Mal an sie erinnern, wenn er an der weißen Tür vorbeiging, würde er ertrinken in Gefühlen, die er niemals fühlen sollte, niemals fühlen wollte? Oder würde er sie vergessen, würde er jemanden anderes finden? Die Einzige... Besonders... Niemand anderes... Nein, das würde er nicht. Er würde sie niemals ersetzen. Wo war er jetzt? Gefangen? Wurde er gefoltert? Wurde ihm sein Lachen geraubt? Sein Grinsen? Sein Lächeln? Sein wunderschönes Lächeln... Seine Augen nicht mehr leuchtend, nicht mehr wach, sondern müde und voller Schmerz? Würde er stolz und aufrecht diese Schmerzen ertragen? Oder würde er sich krümmen, wie ein Feigling? Nein, niemals. Egal wie viel Leid oder Schmerz, er würde nicht mal mit der Wimper zucken. Und wenn doch, dann nicht, weil er ein Feigling war, sondern weil er menschlich war. Der Gedanke daran, dass er leiden musste war einfach nur unerträglich... Noch eine Träne... „Warum weinst du?", fragte jemand leise. Es war ein Kind. Der schwarze Punkt verwandelte sich plötzlich in ein kleines Mädchen, das weiße Gewirr in ein Krankenhauszimmer. Harley wollte etwas erwidern, doch es kam nichts aus ihrem Mund raus. „Du musst nicht weinen..." Das Kind schaute sie mit großen, blauen Augen an. Sie kannte sie. Jamie. „Du bist anders als die anderen, du bist nicht gruselig und du siehst aus wie eine Frau. Die anderen sind fürchterlich. Sie sind schwarz gekleidet und wie Monster..." Wen meinte sie mit „die anderen"? „Bist du ein guter Geist?" Harley öffnete ihren Mund. Dieses Mal kamen wirklich Töne raus. „Ich bin ein trauriger Geist..." „Aber warum?" Jamie ging zu ihrem Bett zurück und setzte sich auf das weiße Laken. „Weil ich tot bin und jemanden verloren habe, der mir alles bedeutet..." Ihre Beine trugen sie zu dem kleinen Mädchen und sie setzte sich neben ihr auf die harte Matratze. „Wen hast du verloren?" „Meine große Liebe...", sie betrachtete ihre weißen Hände. „Oh...", es herrschte einen Moment lang Stille, „Mein Vater hat auch seine große Liebe verloren... Sie ist bei meiner Geburt gestorben... Seitdem ist er nicht mehr er selbst", sie schaute auf, die großen blauen Augen mit Tränen gefüllt, „Er trinkt..." Harley nickte. Sie lächelte die Kleine an. „Ich weiß was mit deiner Mutter passiert ist... Ich war dabei als du geboren wurdest." Bewunderung bildete sich in dem Gesicht der kleinen Brünetten. „Echt?" Die Blondine nickte nochmal. „Aber dann bist du vielleicht mein Beschützergeist!" Harley schaute das kleine Mädchen komisch an. „Aber ich bin eigentlich gar kein Geist..." Jetzt vielleicht schon... immerhin war sie tot. „Wenn du tot bist und einen Platz im Himmel nicht verdient hast, aber trotzdem nicht böse genug für die Hölle bist, dann endest du als Geist und geisterst für immer auf der Erde rum. Aber es gibt auch andere Formen von Geistern." Harley überlegte. Sie war davor doch noch nicht tot, aber sie war schon öfters als Geist unterwegs gewesen. Und dann war sie immer aufgewacht und konnte sich an nichts mehr erinnern... „Welche?" „Es gibt Seelen, dessen Körper im Trauma liegen und in der Gegenwart als Geist entstehen, dann gibt es noch Geister, die schon immer in dieser Form bestanden, das müssen nicht mal Menschen sein. Ich hab schon mal einen Drachen gesehen und ein fliegendes Pferd, meistens sind das Wesen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Und dann sind da noch die Träumer. Sie träumen in ihrer Realität und werden in ihrem Traum in irgendeiner Zeit, Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, zu Geistern. Wenn sie aufwachen, dann verschwinden ihre Geister." Die Augen der Verbrecherin weiteten sich. „Warte mal - welches Jahr ist es??" „2006, wieso?" „Aber... aber ich bin 2014 gestorben!" Jamie schaute sie überrascht an. „Du bist aus der Zukunft?" „Ja, ich glaub schon." Harley betrachtete ihre weißen Hände, streckte ihre Arme vor sich aus und schaute sie verwundert an. Dann griff sie nach ihren Haaren. „Die sind ja gar nicht nass!" „Hä, warum?" „Ich bin ertrunken!" Sie schaute an sich herab. Sie trug ein grünes Nachthemd. „Was zur-", das war nicht die Kleidung, die sie an ihrem letzten Tag getragen hatte. „Vielleicht bist du gar nicht tot? Vielleicht träumst du nur." „Aber-" Plötzlich wurde sie unterbrochen. Die Tür wurde geöffnet. „Mit wem redest du da, Jamie?", fragte eine tiefe Frauenstimme. Die grauhaarige, große Frau in einem weißen Kittel, die sich letztes Mal als Dr. White vorgestellt hatte, stand im Eingang. „Mit- mit niemandem, Madam..." Harley verengte die Augen. Sie hatte diese Frau von Anhieb an gehasst, schon alleine wegen dem was ihr Ehemann ihrem Puddin' angetan hatte. Oder noch anstellen würde. In dem Moment kam ihr der Gedanke, ob es in diesem Jahr schon den Joker gab, oder ob er noch nicht entstanden war. Doch sie vergaß das sofort, als die Kinderpsychologin die Aussage ihrer neuen, kleinen Freundin in Frage stellte. „Ach wirklich? Ich hab dich aber gehört. Welcher deiner Wahnvorstellungen war es diesmal?!" Das sagte sie in keinem Ton, mit dem man mit einem kranken Kind reden sollte, sondern schroff und fordernd. Wut stieg in Harley auf. „Wahnvorstellung?!", rief sie, „Oh ich zeig dir gleich, was eine Wahnvorstellung ist!!!" Sie stand auf und stürmte auf die Frau, die übrigens eine viel zu große Nase für ihr eigentlich schönes Gesicht hatte, zu. Doch ihre Faust traf sie nicht, sondern ging direkt durch ihren Kopf durch. „Uäääh! Mein Arm steckt in ihrem Gehirn", Harley rümpfte ihre Nase. Jamie fing an zu lachen. „Warum lachst du???" „Hör mir mal zu! Mit so einem Ton geht man nicht mit Kindern um! So geht man nur mit richtigen Psychopathen um! Ich denke dein Platz wäre bei deinem scheiß Ehemann in dieser Irrenanstalt da hinten irgendwo!", sie deutete durch den Kopf ihrer Gegnerin in irgendeine Richtung, „Geh in Arkham arbeiten, Bitch!!!" Sie verpasste ihr noch ein paar Ohrfeigen, die sie natürlich nicht spürte und trat ihr noch ein paar Mal durch den Bauch. „Oh, ich wünschte du könntest das spüren!!!" Jamie hörte nicht auf zu lachen. „Jamie! Warum lachst du?!" „Weil dir ein Geist gerade in die Fresse schlägt!", brüllte Harley und fing gleichzeitig an zu lachen. Sie holte nochmal kräftig mit ihrer Faust aus und boxte nochmal kräftig durch sie durch. „Okay, das reicht jetzt! Du kommst jetzt mit mir mit!" Sie ging schnurstracks durch Harley durch, auf das kleine Mädchen zu. Jamie verstummte, Angst bildete sich in ihrem Gesicht und sie kroch rückwärts übers Bett, presste ihren Rücken gegen die weiße Wand. In dem Moment fühlte die Verbrecherin einen Stich in ihrem Herzen. Schuldgefühle huschten durch ihre Blutbahnen. „Kann ich mich irgendwie bemerkbar machen?!", rief sie Jamie zu. Dr. White griff nach dem dünnen Unterarm des kleinen Mädchens und zerrte sie vom Bett. „Nein...", stammelte sie. „Oh doch! Du kommst jetzt mit mir mit, junge Dame!" Und die Psychologin zog sie hinter sich her, aus dem weißen Krankenhauszimmer raus. Harley wollte ihnen folgen, doch ihre Füße waren wieder mal wie festgeklebt. Sie ließ einen wütenden Schrei raus. „Jamie, ich schwöre! Wenn ich noch am Leben bin, dann suche ich diese Frau in meiner Gegenwart und mache ihr das Leben zur Hölle!!!", rief sie ihr hinterher, „Ich heiße übrigens Harley!" Und plötzlich wurde alles langsam wieder verschwommen und dunkler.

„Wo bin ich denn jetzt gelandet?", fragte sie sich selbst, als ihre Sicht wieder klar wurde. Es war ziemlich dunkel, die Wände waren grau und schmutzig und nur fades Licht kam von einer flackernden Lampe etwas weiter den Flur runter. „Hallo?", rief sie, bevor sie kurz danach bemerkte, dass sie wahrscheinlich eh niemand hören konnte. Sie versuchte ihre Füße zu bewegen, und es klappte sogar. Harley schaute sich um. „Rechts oder links?" Plötzlich hörte sie etwas. Es war ein Knarzen, wie das was eine alte, metallene Tür von sich gab, wenn man sie schloss oder öffnete. Es kam definitiv aus der linken Richtung. Harley setzte sich in Bewegung, einen Fuß vor den anderen. Umso weiter sie ging, umso dunkler wurde es, denn die Lampe lag in der anderen Richtung. Doch desto mehr sie sich umsah, desto mehr wurde ihr klar wo sie war. Das hier war ein Gefängnis. Sie ging an mehreren, leeren Zellen vorbei, manche waren beleuchtet, manche nicht. Ein paar hatten sogar Menschen drin, doch sie kannte keine davon. Sie kam zu einer Tür. Einer großen, metallenen Tür. „Hochsicherheits Trakt", stand in großen, schwarzen Lettern dort auf einem Schild. Wahrscheinlich abgeschlossen, doch Harley konnte ja durch Wände gehen. Also schlüpfte sie durch den Eingang. Hier war alles viel besser beleuchtet, die Zellen bestanden aus neuen, sichereren Metallstäben. Doch das war Harley nun egal. In der hintersten Zelle saß jemand, der ihr sehr bekannt vorkam. „Puddin'?!"

Emergency Exit Madness - Abgebrochen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt