Pflicht

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Sie sank. Immer tiefer, immer schneller. Unendlich weit. Die hell erleuchtete Oberfläche. Bald war sie weg. Nur noch ein kleiner, leuchtender Punkt ganz weit oben in dieser tiefen, unendlichen Finsternis. Wie ein Stern. Wie ihre Hoffnung. Immer und immer kleiner. Ihre Lungen brannten, ihr Herz klopfte schnell. Panik. Das Blut in ihren Adern gefror zu Eis. Kaltes Wasser. Überall. Ihre Luft wurde knapp. Sie brauchte Sauerstoff. Doch es gab keinen. Keine Luft. Nichts woran sie sich hätte festhalten können, nichts woran sie hätte hoch klettern können. Nur unendlich tiefes, eisiges, dunkles Wasser.

Sie schreckte hoch und schnappte hoffend nach Luft. Ihre Lungen füllten sich schnell mit Sauerstoff. Sie fuhr sich mit der blassen Hand durch ihre Haare. Nicht nass. Sie schloss die weit aufgerissenen Augen. Es war nur ein Traum. Schon wieder dieser eine Traum. Er hatte sie in der vergangenen Woche verfolgt, jede Nacht war er über sie hergefallen, bis sie aufgewacht war, schweißgebadet und panisch. Er erinnerte sie an alles was erst letztlich passiert war. Und er verstärkte ihre Angst vor dem Wasser einfach nur noch mehr. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sie sich nie wieder trauen würde, irgendwie in tieferes Wasser zu gehen. Diese Erinnerung an das Ertrinken würde sie wohl für immer davon abhalten. Sie langte vor und strich die dunkle Decke glatt, die sich wild um ihre wohl strampelnden Beine gewickelt hatte. Plötzlich schlängelte sich ein Arm um ihre Taille und zog sie wieder runter auf das weiche Bett. Sie zuckte erschrocken bei der Berührung zusammen. Doch sie beruhigte sich sofort wieder, als sie in seine wunderschönen, sturmgrauen Augen guckte. Sie schimmerten im Mondlicht, das durch die halboffenen Vorhänge schien. „Schon wieder?", hörte sie seine verschlafene Stimme neben ihrem Ohr. Sie nickte ins beige Kissen rein und gähnte. „Meine scheiß Angst vor Wasser wächst immer weiter...", murmelte sie und zog die Decke über ihre blanken Schultern. Sie waren am Abend wieder im Nachtclub des Jokers gewesen. Das waren die Nächte, die ihr am meisten Freude bereiteten. Dann konnte sie mit den Tänzerinnen zusammen tanzen, über die Zuschauer hinweg schauen, direkt in die Augen ihres Puddin's, die dann oft verlangend jede ihrer Bewegungen verfolgten. Und meistens endete es dann damit, dass sie in seinen Armen lag, grinsend vor Glück. Das war bis jetzt erst zwei Mal passiert, jedoch wusste sie ganz genau, dass es zu einem Ritual der beiden werden würde. Sie spürte seine warmen Hände an ihrer Hüfte. „Das vergeht wieder", flüsterte er, „Wahrscheinlich schneller als du denkst." Er drückte sie an seinen nackten Oberkörper. Sie schielte zu ihm hoch, verengte die Augen misstrauisch. „Du hast doch schon wieder irgendwas vor..." Ein kleines, verschmitztes Grinsen erschien auf seinen blassroten Lippen. „Was hast du vor?", fragte sie, ebenfalls grinsend und drehte sich auf der Matratze, sodass sie Brust an Brust lagen, „Hm?" „Das siehst du, wenn es so weit ist." Sie fuhr die eine, lange Wunde, die seine linke Schulter schmückte, mit dem Zeigefinger nach. Seine Verletzungen vom Gefängnisaufenthalt hatten angefangen zu heilen. Sie waren nicht mehr so blutrot und einige waren schon dabei zu vernarben. Jedoch würde es noch eine Weile dauern, bis keine offensichtlichen Spuren von diesen schrecklichen paar Tagen mehr zu sehen waren. Sie zog einen Schmollmund. „Warum willst du es mir nicht sagen?" Er strich ihr über die verzogenen Lippen und lachte leise, sodass Harley ein Schauder über den Rücken lief. „Weil du dann Angst hättest." „Oh super..." Einige gruselige Szenarien huschten ihr durch den Kopf. „Solange du mich nicht ertränkst." „Warum sollte ich das tun?", er zog sie am Kinn noch näher zu sich, sodass sich ihre Nasen fast berührten, „Ich brauche dich doch noch." Sie grinste. „Ach so ist das?", ihre Hände drückten ihn an seinen Schultern auf den Rücken, „Du brauchst mich also?" Ihre tiefblauen Augen schauten erwartend auf ihn herab. Sie hörte ihn laut ausatmen, als ob er den letzten Satz, der aus seinem Mund gekommen war, jetzt bereute. „Habe ich das gerade gesagt?" „Ja, das hast du." Sie kicherte. Doch plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrem nackten Rücken. Rau und doch irgendwie beruhigend. Er schaute ihr tief in die großen, ungeschminkten Augen. „Jetzt schlaf erstmal, Harley." In dem Moment kam noch ein Gähnen ihren Rachen hochgekrochen. Er kontrollierte ihren Körper, so wie er ihr Leben nun unter Kontrolle hatte. Es war fast schon gruselig. Als ob sie eine Maschine war und er nur ein paar Knöpfe drücken musste. „Na gut", sie gab seinem befehlenden Blick nach, „Gute Nacht..." Sie ließ sich wieder zurückfallen, auf die weichen Kissen und kuschelte sich an ihn, so nah wie möglich. Seine Finger kämmten durch ihre platinblonden Haare, während sie langsam wieder in den Schlaf glitt.

Emergency Exit Madness - Abgebrochen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt