Hermines Sicht
Langsam öffne ich meine Augen. Ich sitze auf einem gepolsterten Sofa. Etwas verkrampft hebe ich meinen Kopf an. Bis gerade eben lag mein Kinn noch auf meiner Brust, was meinem Nacken ganz schön zu schaffen macht, der sich jetzt mehr als steif anfühlt. Anscheinend bin ich eingeschlafen. Aber wo bin ich nur? Vorsichtig stemme ich mich vom Sofa hoch, packe mein Buch ein und betrete den Gang. Die Fackeln an den Wänden flackern vom Windzug. Offensichtlich bin ich in den Kerkern, hier ist es schließlich immer so unangenehm kalt und zugig. Ein Duft steigt mir in die Nase. Zahnpasta, frisch gemähtes Gras, Pergament, grüner Apfel und Aftershave. Merkwürdig, denke ich mir und schaue mich um, um der Quelle dieses Dufts auf den Grund zu gehen. Plötzlich sticht mir ein transparenter Beutel mit lila Blüten ins Auge. Sofort überwältigen mich die Erinnerungen an Kräuterkunde. Mist, ich sollte doch die Belladonnablüten zu Slughorn bringen!
Warum hab ich mich so gehen lassen? Das ist doch sonst nicht meine Art. Fieberhaft suche ich nach einer Erklärung, finde aber partout keine Antwort auf meine stumme Frage. Es ist, als hätte ich einen Filmriss. Etwas bedröppelt hebe ich das Tütchen auf, stutze jedoch. Mindestens die Hälfte fehlt. Der Sack war doch vorhin fast randvoll. Wie soll ich das denn bitte Prof. Sprout und Prof. Slughorn erklären. Die werden doch denken, ich hätte etwas für eigene Zwecke abgezapft. Und dann bekomme ich Hauspunkte abgezogen oder muss nachsitzen. Ich musste noch nie nachsitzen und überhaupt, das würde ich doch nie machen! Abgesehen davon, wem sollte ich schon einen Liebestrank verabreichen. Also abgesehen von Malfoy. Doch wäre das überhaupt noch nötig?
Leicht panisch haste ich zum Büro des Zaubertrankmeisters. Ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. 'Ruhig Hermine', spreche ich mir eisernen Mut zu und klopfe anschließend an die Mahagonitür meines Lehrers. Es dauert nicht lange und er öffnet diese, ganz voran sein, mit silbernen Knöpfen verzierter, ziemlich korpulenter Bauch. Ein paar kandierte Ananas weniger, würden ihm sicher auch nicht schaden. "Ah Miss Granger, da sind sie ja! Ich habe sie schon erwartet und mich gefragt, wo sie bleiben. Jetzt muss ich mir wohl etwas aus der Küche besorgen. Das Mittagessen ist sicher schon vorbei.", sagt er in strengem Ton, zwinkert mir jedoch gleichzeitig verschmitzt zu, was die Wirkung deutlich verpuffen lässt.
Zu meiner größten Erleichterung stellt Slughorn keine unangenehmen Fragen, was den Inhalt des Beutels angeht, den ich ihm soeben überreicht habe. "Nun Miss Granger, nicht so schüchtern. So kenne ich sie ja gar nicht. Ich danke ihnen. Nehmen sie doch bitte 20 wohl verdiente Punkte für ihr Haus und eine Einladung für nächsten Samstag, zu einem meiner kleinen Abendessen. Über die Anwesenheit ihrer Freunde, Mr Potter, Ms Weasley und ihres Bruders, würde ich mich selbstverständlich auch sehr freuen." "Danke Professor. Ich werde es den Anderen ausrichten. Auf Wiedersehen!" Glücklicherweise kann ich mich schnell loseisen und laufe in Richtung Gryffindorturm. Hunger habe ich eh kaum mehr. Die Zeit vergeht wie im Flug. Da heute nachmittagsunterrichtsfreier Tag ist, nutze ich diesen, um etwas zu lernen und so schnappe ich mir mein Arithmantikbuch und mache es mir gemütlich.
Ich merke gar nicht, dass es draußen bereits dämmert, bis eine, verdattert dreinschauende, Ginny durch das Portraitloch steigt und mich mit offenem Mund mustert. Habe ich etwas im Gesicht? Doch schon im nächsten Augenblick verwerfe ich diesen lächerlichen Gedanken und schrumpfe in mich zusammen. Diesen Gesichtsausdruck meiner besten Freundin kenne ich und das bedeutet auf jeden Fall Ärger. Jap, eindeutig, denn kaum kommt sie direkt vor mir zum Stehen, wettert sie auch schon los.
"Sag mal, was tust du denn hier?! Wir hatten eine Verabredung, schon vergessen? Aber die Bücher sind natürlich wichtiger. Ich kann es langsam nicht mehr ersehen! Du vernachlässigst deine Freunde Hermine und lässt sie für ein Buch einfach links liegen! Kannst du mir mal bitte erklären, warum das jetzt unbedingt in diesem Moment sein musste? Ich habe über eine Stunde auf dich gewartet und mir wortwörtlich den Arsch für dich abgefroren. Aber du hast es ja nicht für nötig gehalten, deinen Po zum See runter zu schwingen."
Mit jedem Wort ducke ich mich weiter in meinen Sessel. Mittlerweile starren uns auch schon einige andere Gryffindors an, schauen aber, auf Ginnys mörderische Blicke hin, direkt wieder weg. Wenn meine Freundin so drauf ist, möchte ihr keiner in die Quere kommen. Da sind Flederwichte nämlich schon vorprogrammiert. Diese bleiben jedoch fürs Erste aus, zum Glück.
"Oh Mann, Ginny, es tut mir so unglaublich leid. Nichts ist mir wichtiger, als deine Freundschaft. Du bist wie eine Schwester für mich. Aber in letzter Zeit, versuche ich mich etwas intensiver auf die UTZs vorzubereiten. Ich habe es unter den ganzen Schulsachen völlig außer Acht gelassen und nicht auf die Uhr geschaut, wie spät es schon ist. Unser Treffen holen wir nach, versprochen, hörst du?" Etwas sanftmütiger wendet sich die Rothaarige wieder mir zu. Sie sagt mir, dass es mal vorkommen kann, sie aber hofft, wieder mehr mit mir verbringen zu können. Und das hoffe ich auch von ganzem Herzen. Nachdem ich, mit einem Zauber, die Seite markiert habe, auf der ich aufgehört habe zu lesen, gehe ich auf meine beste Freundin zu und nehme sie in den Arm.
Streit gehört doch einfach zu einer Freundschaft dazu. Er zeigt ja schließlich nur, dass einem die andere Person nicht egal ist. Und um weiter zu wachsen, muss man gemeinsam durch Dick und dünn gehen und wer bietet sich da schon besser an, als eine beste Freundin?!
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Wie Licht und Schatten
FanfictionZwischen Leben und Tod zu schweben kann einem ganz schön an die Substanz gehen. Wie ist es wohl, ein Teilzeitgeist zu sein? Ob die Magie da noch etwas bewirken kann? Der kleine Sam reist mithilfe eines Zeitumkehrers in die Vergangenheit, um sein Le...