Heimlicher Spion

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Sams Sicht

Schnellen Schrittes laufe ich durch die verlassenen, und nur vereinzelt vom Mond beleuchteten, Gänge. Nach einem dieser dummen Verschwinde-Fälle bin ich ohnehin schon spät dran. Ich meine, als ob ich diesen Nervenkitzel gebrauchen könnte. Es ist ja nicht so, dass ich so schon nicht genug Stress habe. 

Jedes Mal, wenn ich an mein kleines 'Problem', wie ich es heimlich nenne, denke, bekomme ich Panikzustände der übelsten Sorte. Ich beginne, unkontrolliert zu zittern und mir bricht der kalte Angstschweiß am ganzen Körper aus. 

In letzter Zeit musste ich mich sogar des Öfteren nachts umziehen, weil mich diese beunruhigenden Symptome nicht mal in meinen Träumen verschonen wollen, sodass ich schon mehrmals in klitschnassem T-Shirt aufgewacht bin. Einmal war es so schlimm, dass sich all meine Panik in einem lauten Schrei entladen hat und dadurch nicht nur ich, sondern auch meine Mitbewohner aus dem Schlaf gerissen wurden. Dass sie allesamt wenig erfreut waren, ist, denke ich, selbsterklärend. 

Doch auch ich war alles andere als erfreut. Es ist unvorstellbar quälend diesen Bildern von verschwundenen Gliedmaßen, dauerhaft ausgesetzt zu sein. Sie verfolgen mich, wenn ich träume und wenn ich dann die Augen aufschlage, muss ich erkennen, dass aus einem Traum plötzlich bittere Realität geworden ist. Erst gestern war der Schock besonders groß, als ich beim morgendlichen Duschen wieder einen dieser Anfälle hatte, währenddessen mein Fuß wild geflackert hat, ähnlich einer Kerze im Windzug, die erlöscht, wenn dieser zu stark ist. 

Während sich der Großteil meines Fußes wieder materialisierte, blieben zwei Zehen unsichtbar. Und nicht nur das, sie waren einfach weg, wie glatt weggeschnitten, nur eben, dass der Schmerz ausblieb. Es war, als hätte ich nie mehr als drei Zehen gehabt. Dieser Anblick war so verstörend, dass mir die Galle hochgekommen ist und ich mich herzhaft übergeben musste, bis ich schlussendlich nur noch von leeren Krämpfen geschüttelt wurde. 

Schlimm genug, bis jetzt sind alle Körperteile wieder aufgetaucht. Doch das hier war nochmal einen ganzen Zacken schärfer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeiner diese Sache locker hinnehmen könnte, ich meine, hallo?! Ich verschwinde offensichtlich Stück für Stück und mir bleibt nichts anderes übrig, als mittellos dabei zuzusehen. 

Bis jetzt bin ich mir dem Ausmaß dieser Gesamtsituation nicht einmal bewusst geworden, doch nun hat das Ganze etwas Endgültiges an sich. Was ist, wenn sich die 'Krankheit', wenn man das so nennen kann, weiter ausbreitet und ich am Ende ein ganzes Bein, oder einen Arm verliere?! Oder noch mehr? Was ist, wenn ich immer weiter und weiter auf ein Minimum reduziert werde, bis ich irgendwann einfach nicht mehr existiere? Bin ich dann tot? Und wenn ja, gibt es eine schlimmere Art zu sterben, als sich selbst, über lange Zeit, beim langsamen Dahinscheiden zusehen zu müssen? Wohl kaum, dass kann mir jeder glauben, ich bin in diesem Gebiet ja leider Experte, auch, wenn ich wünschte, dass das nicht der Fall wäre.

Nun ja, bis gestern Abend habe ich die Hoffnung noch nicht endgültig aufgegeben. Vielleicht war es einfach nur Einbildung, oder der Wunsch, dass diese überdimensional wahnwitzige Idee, tatsächlich der Realität entspricht, aber für einen Tag habe ich fest daran geglaubt, dass mein Fuß am nächsten Morgen wieder genau so aussehen wird, wie vor gut 24 Stunden. Falsch gedacht, wie ich eben heute in der Früh erbittert, frustriert und allen voran panisch hatte feststellen müssen. 

Umso größer war die Angst, als kurz nach dem Nachmittagsunterricht, ich war gerade auf dem Weg zum Tee in die große Halle, mein Arm aus heiterem Himmel begann, zu flackern. Ich meine, meine zwei Zehen waren schon fast mehr, als mein kleines Herz verkraften kann, aber die kann man wenigstens verstecken. Beziehungsweise, kann man etwas verstecken, das nicht existiert? Nun ja, ich kann immerhin verstecken, dass es nicht existiert. 

Wie Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt