Klartext

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Hermines Sicht

"... meine Schuld!", hallt es wieder und immer wieder in meinem Kopf nach. Mein Gehirn ist wie leergeblasen. Nur diese wenigen Worte bahnen sich ihren stechenden Weg durch dessen unzählige Windungen. Kälte nimmt von meinem Körper Besitz und es fühlt sich an, als ob sämtliches Blut aus meinen Adern gesogen wird. Wie vom Donner gerührt starre ich Harry an und doch sehe ich ihn nicht. Mein Blick gleitet emotionslos durch ihn hindurch, als wäre er Luft. Ich nehme nicht einmal wahr, dass er panisch von der Bank aufspringt und aus der Halle läuft.

Erst Ginny gelingt es, mich aus meiner Trance zu reißen. "Was meint er mit 'seine Schuld'?! Was will er denn bitte mit dieser Urteilsverkündung zu tun haben? Harry hatte doch nie wirklich etwas mit dem alten Malfoy am Hut, abgesehen von ein paar Duellen, aber viel Zeit zum Reden blieb da wohl eher nicht, möchte ich behaupten. Warum muss immer alles so kompliziert sein?! Und warum immer er ?! Hat er in seinen jungen Jahren nicht schon genug Abenteuer für ein ganzes Leben erlebt? Wir sollten ihm nachgehen, meinst du nicht? Er war ziemlich von der Rolle und ich habe total Angst, dass er auf dumme Gedanken kommt! Du kennst ihn doch."

Bevor ich noch etwas erwidern kann, werde ich von der Bank gezerrt und aus der Halle gezogen. Vor der Tür schauen wir uns kurz orientierungslos in der Eingangshalle um. Weit und breit jedoch keine Spur vom Goldjungen.

"Ginny, hör auf deinen Instinkt! Wo würde Harry am ehesten hingehen?" Ihre Augen wandern in Richtung großer Steintreppe, bevor sie zu einem unscheinbaren Seitenkorridor hinüber huschen. "Da lang!"
Je weiter wir in den Gang eintauchen, desto kühler wird es. Die bläulichen Fackeln an den kargen Steinwänden flackern bedrohlich und einzig und allein Peeves, der klappernd an ein paar Ritterrüstungen vorbeizieht, ist in der Ferne zu hören.

Gänsehaut überdeckt unsere Körper und unser Atem zeichnet sich als kleine Kondenswölkchen, in der kühlen Luft, ab. Plötzlich hält mich meine beste Freundin am Ärmel zurück und bedeutet mir, mit erhobener Hand, ruhig zu sein und zu lauschen. Für kurze Zeit höre ich nichts und auch Ginny ist deutlich anzusehen, dass sie an ihrem Gehör zweifelt, bis plötzlich ein leises Schniefen die Stille zerreißt. Sofort stürzen wir zu der, leicht geöffneten, Tür und verbreitern den Spalt, durch den spärliches Licht dringt, sodass wir hindurch passen.

Der Raum war wohl mal ein Klassenzimmer, doch gleicht es, trotz seiner etlichen Stühle und Tische, nun mehr einer Abstellkammer. Und dort, ganz hinten, in der Ecke, sitzt ein, verkümmert zusammen gesackter Harry, auf dem nackten Steinfußboden.

Ich habe ihn selten so aufgelöst gesehen und dieser Anblick zerreißt mir das Herz in der Brust. Harry so verzweifelt zu sehen, ist, als würde ich meinem Bruder, den ich nie hatte, dabei zusehen, wie er innerlich zerbricht. Aber nein, so ganz stimmt das nicht. Ich habe einen Bruder. Harry. Er ist und war schon immer nicht nur einer meiner zwei besten Freunde, sondern nahm auch eine wichtige Rolle auf familiärer Ebene ein.

Allen voran das letzte Jahr hat uns wirklich zusammengeschweißt, aber dem Tod ins Auge zu sehen, gehört wohl zu den Dingen, die unumstößlich verbinden. Eben genau, wie der Kampf gegen einen, vier Meter hohen, Bergtroll. Ja, nicht nur verbinden, verbrüdern! Und das so stark, dass sogar Ginny manchmal eifersüchtig auf mich ist. Völlig grundlos noch dazu.

Ich kann stolz behaupten, dass ich zu den wichtigsten Menschen in Harrys Leben gehöre, zumal ich weiß, dass diese Geschwisterliebe, die ich für ihn empfinde, genauso stark erwidert wird. Aber dennoch hat niemand, mit Ausnahme von Ginny, das Privileg, behaupten zu dürfen, dass er die wichtigste Person in Harrys Leben ist.

Da ist es nur zu selbstverständlich, dass es nicht nur mich, sondern auch Ginny alles andere als kalt lässt, unseren 'Freund-Freund' so innerlich zerstört zu sehen.

Wie Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt