Körper und Verstand

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Das war ne blöde Idee.

Chihiro krallte sich mit aller Kraft in die Kerben in den Felsen und versuchte, mit den Zehenspitzen Halt zu finden. Mit dem gesamten Fuß fand sie nirgendwo Platz.

Ne richtig, richtig blöde Idee!

Mit einem innerlichen Ruck streckte sie die Hand aus, um nach dem kleinen Vorsprung zu greifen, und setzte den Fuß nach. Sie hatte hin und her überlegt, was sie als nächstes Tun sollte, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie mit jemandem im Kloster sprechen musste, der ihr auch Gehör schenken würde. Und da kamen nicht viele in Frage. Haku auf eigene Faust zu finden würde Zeit brauchen, und diese Zeit blieb ihm vielleicht nicht. Im Kloster auf gut Glück herumzuschleichen wäre viel zu riskant, schließlich kannte sie sich dort drinnen nicht wirklich aus. Im besten Fall wäre sie vielleicht sogar Teban in die Arme gelaufen. Das wollte sie nicht riskieren.

Aber als sie dort in dem Garten stand und sich umschaute, fiel ihr eine Sache ins Auge: eine Glaskuppel, deren innere Fassade von in etlichen Farben schillernden Pflanzen überwuchert war. Ein Treibhaus, das ihr sehr vertraut erschien. Nun war zu hoffen, dass es sich dabei wirklich um den prächtigen Garten handelte, in dem sie mit Hora Tee getrunken hatte.

Das war nicht nur ihre beste Chance, es war wohl ihre einzige. Eine Tatsache, der sie sich in letzter Zeit immer häufiger bewusst wurde.

"Uaaa!", entwich es ihr, als sie mit dem Fuß abrutschte und plötzlich in der Luft hing. Ihre Arme schmerzten, als sie sich hochzog und mit den Füßen nach einer sicheren Stelle tastete.
Sie hörte sich noch selber sagen: "Den Berg entlang klettern, kann ja nicht so schwer sein." Und das war erst ein paar Minuten her.

GEEENAUUUU, CHIHIRO. Super Idee!

Innerlich heftig fluchend bewegte sie sich weiter und wagte nicht, den Kopf zu drehen. Sie wollte gar nicht wissen, wie weit sie schon geklettert war, wie weit der sichere Felsvorsprung, von dem aus sie gestartet war, schon entfernt lag. Sie wusste nur, dass sich ihre Arme wie Pudding anfühlten. Sie wurden immer schwerer und zwischenzeitlich verkrampften sich ihre Waden von der ständigen Anspannung. Der Schweiß rann ihr von der Stirn, als sie sich weiter antrieb und vorwärts bewegte. Ihre Haut schabte dabei über hervortretende, scharfe Felsspitzen. Nach einer Weile aber wurde die Felswand immer ebener, die raue Oberfläche zunehmend glatter. Panik machte sich in ihr breit; was, wenn sie nun nichts mehr zum Festhalten fand?

Chihiro lehnte sich ein kleines Stück zurück, um einen Blick darauf zu werfen, was vor ihr lag. Aus dem rauen, felsigen Bergmantel brach allmählich das darin verborgene Kloster an die Oberfläche: Die Fassade mancher Räumlichkeiten schien aus dem Gestein hervorzubrechen, und eine Terrasse, die zur Bepflanzung genutzt wurde, kam in Sicht.

Chihiro  atmete tief durch, bevor sie erneut den Arm ausstreckte und nach einer guten Stelle zum Festhalten tastete. Sie erfühlte eine breite Kante, die ihr perfekten Halt bot, und so setzte sie nach. Mit vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen schwang sie sich hinüber und packte mit beiden Händen die Kante, mit in der Luft baumelnden Beinen. Sie hatte nach einem Sims der ihr vertrauten Bogenfenster gegriffen und zog sich mühsam daran hoch.

"... das möglich wäre!", sprach jemand aufbrausend, und Chihiro hielt abrupt inne. Sie verfluchte erneut ihre Unsportlichkeit und betete, dass die Leute dort verschwanden, bevor sie früher oder später vor Erschöpfung loslassen würde...

"Ein paar Stunden noch, dann ist der Albtraum vorbei", sagte jemand, dessen Stimme sie nicht kannte. Eine junge Frau, allem Anschein nach.

"Ich bin gespannt, wie er aussieht", antwortete jemand, hinter dem Chihiro einen Jungen vermutete. Da seine Stimme ein wenig krächzte, schien er noch nicht sonderlich alt zu sein, gerade erst im Stimmbruch. "Einer von den Alten! Wann hat man die schon gesehen? Ob wir bei der Zeremonie dabei sein dürfen, was meinst du?"

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt