Wege der Magie

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Ihr gelang kaum ein Schlucken, so erstarrt war sie. Chihiro atmete flach, denn sie wollte kein Geräusch erzeugen, das dieses Bild zerstören könnte. Zu sehr hatte ihr Herz danach verlangt ihn zu sehen. Den Jungen von früher. Diesen einen Vertrauten, dessen Hände, wenn sie die ihren ergriffen, ihr eine ungeheure Kraft verliehen, die sie zu einfach allem befähigte. Lebhaft spürte sie das Verlangen in sich, dass sie immer wieder davon träumte, immer wieder seine Stimme hörte, sein Gesicht - welches ihr bislang immer hinter einem Schleier verbogen geblieben war - zu sehen wünschte. Sie wollte den herzerwärmenden Blick zweier Smaragde auf sich spüren, Augen voller Sanftheit und Stärke zugleich.

Chihiro dachte an den Traum, der ihr im Geiste noch immer nachhing. Er war darin aufgetaucht. Hatte vor ihr gestanden auf einer roten Brücke, von der aus man einen Zug über Wasser fahren sah. Die Hand nach ihr ausgestreckt, ihren Namen einladend raunend.

Und dann, als sie nach ihm greifen wollte, war alles verblasst. War ersetzt worden durch dieses Kitzeln und Kribbeln, durch ein gänzlich anderes Bild, welches ihr das Herz schwer machte und das Gefühl von Verlust Überhand gewinnen ließ. Eine ganz schmerzhafte Sehnsucht, die ihr die Tränen in die Augen trieb.

Chihiro's Wangen waren noch nass und sie blinzelte, als ihre Augen von Neuem brannten. Sie wischte sich mit der Handfläche darüber und zwang sich zu einem tiefen Atemzug, um wieder zur Besinnung zu kommen. Es fiel ihr unfassbar schwer, auch nur die Hand dazu zu heben.

Ihr Herz tat einen Sprung, als sie es hörte. Wirklich und wahrhaftig sprach er, zwar nur murmelnd und ganz leise, aber sie hörte es. 

"Chi...", brabbelte er. "Ch-ro", kam es über seine Lippen, immer wieder.

Haku. Sie überwand die kurze Distanz, bis sie neben ihm auf Knien kauerte und es nicht über sich brachte, ihn bei den Schultern zu packen, um ihn umzudrehen. Sie streckte mehrmals die Arme aus, wollte es ja... aber sie wagte es nicht. Es war, als hielte sie etwas in ihrem Kopf davon ab, ihn anzufassen. Als könnte er wieder zu dem Drachen werden, wenn sie ihn jetzt berührte. Und kaum saß sie da, verstummten seine kläglichen Rufe.

"Haku?", fragte sie panisch und erkannte ihre eigene Stimme nicht. Hauchend und tonlos, als wäre sie ganz außer Atem. Sie fasste sich, rief etwas bestimmter: "Haku!"

Und tatsächlich rührte er sich, wenn auch nur ganz sachte. Es war kaum mehr als das Zucken seiner Fingerspitzen und der Klang seines Atems.

"Geht es dir gut? Bist du... bist du verletzt?", wollte sie wissen und beugte sich ganz nah zu seinem Gesicht herab, das von seinem Haar verdeckt wurde, um ihn verstehen zu können. Doch er flüsterte nur undeutlich ihren Namen. "Ja, ich bin es", sagte sie. "Haku, ist alles in Ordnung? Was kann ich tun?"

Er schien etwas sagen zu wollen, aber es kam ihm kaum über die Lippen. Chihiro beugte sich näher vor, bis ihr Haar das seine streifte. Nach mehreren Anläufen verstand sie, was er sagte. Zeniba.

"Wir sind nicht mehr bei ihr. Wir sind irgendwo im Wald, hörst du?"

Doch wieder sagte er nur ihren Namen und Chihiro überkam die Angst. Wenn er nach Zeniba fragte, musste er ihre Hilfe brauchen. Ihre Magie. Chihiro konnte sich nur ausmalen, wofür. Hatte er Schmerzen? Brauchte er irgendeinen Zauber?

"Zeni-ba", verlangte er wieder.

Verdammt, dachte Chihiro und schaute sich genau um. Sie wusste nicht mehr aus welcher Richtung sie überhaupt gekommen war, geschweige denn, wie weit sie sich vom Haus entfernt hatte. Sie war durch den Adrenalinschub mehrere Minuten wie der Teufel gerannt, dann ein ganzes Stück gegangen... Vielleicht acht Kilometer? Sie wusste es nicht.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt