Von Göttern und Menschen (2)

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Er stand vor der gigantischen Doppelflügeltür, barfuß auf dem blankpolierten Jadegestein, in welchem sich jeder Lichtkegel der zahlreichen Wandleuchter und selbst Haku's Erscheinungsbild spiegelte. Das Stockwerk, welches die Hexe selbst bewohnte, die ihn in ihre Dienste gestellt hatte, und in dem er so oft wie selbstverständlich eingekehrt war. Nun fühlte Haku sich wie ein unerwünschter Gast, wo seine Bindung an diese Welt nun gelöst war. Aber ebenso wenig hatte er erwartet, dass das Portal ihm sein Durchlass und damit die ersehnte Heinkehr verwehren würde. Seitdem verspürte Haku seine eigene innere Anspannung wie ein permanentes Stechen unter der Haut, empfand seinen Frust und die Verwirrung noch wie Ebbe an einem Strand - die Flut beherrschte ihn nicht mehr, aber sie war längst nicht verschwunden und neckte seinen Geist, der sonst nur den Zustand völliger Beherrschung kannte.

Er brauchte nicht zu klopfen. Die Türen flogen auf und ließen ihn ein, beinahe schon bereitwillig und fordernd, was Haku fast ein Lächeln entlockte. Yubaba wusste um seine Anwesenheit. Ob sie gleichermaßen über dieses unverhoffte Wiedersehen überrascht war? Gewiss würde sie wenig Freude daran finden, aber zweifellos war ihre Neugier geweckt. So schritt Haku ruhigen Schritts durch die langen Gänge, bis er im Büro seiner ehemaligen Meisterin stand. Yubaba saß zurückgelehnt an ihrem Schreibpult in einem großen, schweren Stuhl, ihr Augenmerk unbeirrt auf den Besucher gerichtet, der sich ungeniert in ihren Räumlichkeiten bewegte. Haku schenkte ihrem missgelaunten Blick keine Beachtung, auch nicht der Frage, die unausgesprochen darin lag. Er wartete, dass sie ihm einen Platz anbot, nur wartete er vergebens. Yubaba musterte ihn offenkundig abfällig, als betrachte sie ein scheußliches Insekt, das sich in ihr Privatgemach verirrt hatte.
"Ich dachte nicht, dein Gesicht je wiederzusehen. Du bist wie lange fort gewesen? Kaum einen Tag? Welchem Umstand verdanke ich nur dieses außerordentliche Vergnügen?" Ihre raue Stimme troff vor Sarkasmus, Haku aber verstand sich gut genug darauf, darüber hinwegzusehen. Jahrelang hatte er seine Rolle gespielt, war ihr untergeben gewesen und wusste, welche Umgangsform er gegenüber seiner ehemaligen Meisterin zu pflegen hatte. "Also?", fragte sie mit gehobenen Augenbrauen.
"Ich habe ebenso wenig damit gerechnet. Mir scheint nur, etwas hält mich nach wie vor hier fest", begann er und erhielt die undurchdringliche Maske aufrecht, die er im Laufe der Zeit in Yubaba's Diensten kreiert hatte. Eine Maske, die jedes Anzeichen von Emotionen sicher verbarg und wie eine Schutzweste die Kugelgeschosse abhielt, die die Hexe auf ihn abfeuerte.
"Dann willst du dich wohl wieder in meine Dienste stellen? Bedaure, Haku. Du bist ein Nichtsnutz, ein Taugenichts. Diese Chance ist vertan", säuselte sie in gespieltem Bedauern.

"Vielmehr bin ich gekommen, um zu erfahren, ob Sie ihren Anteil an dem Umstand nehmen, dass ich noch hier bin. Schließlich bekleiden Sie hier die Rolle des Spielmachers, nicht wahr?" Es war weniger eine Frage, denn eine Tatsache. Ihnen beiden war es nur allzu bewusst.
Yubaba lächelte auf ihn herab, als sie anmerkte: "Du dummer Junge. Ich habe dich wirklich für schlauer gehalten! Wie enttäuschend..."

Haku war in Geduld geübt und verstand sich darauf, nicht auf ihr kleines Machtspielchen einzugehen, in dem nur sie selbst als Gewinnerin hervorgehen würde."Haben Sie etwas damit zu tun?", fragte er ganz direkt.

Yubaba's Lächeln wurde breiter und sie trommelte mit den klauenartigen, rot lackierten Nägeln, neben denen die Schreibtischutensilien wirkten, als wären sie für ein Puppenhaus angefertigt, auf den Tisch. "Ginge es nach meinem Willen, befände sich dein gehörnter Dickschädel als Trophäe in einer meiner Vitrinen, sodass sich wenigstens meine Gäste an deinem Anblick noch erfreuen können."
Nein, mit anderen Worten, dachte er und kam nicht umhin innerlich zu seufzen. Er ahnte, dass diese Tatsache Folgen nach sich ziehen würde, die ihm noch nicht völlig klar waren. Wäre Yubaba der Grund, hätte es ihm immerhin eine seiner Fragen beantwortet.

"Sicher haben Sie nicht mit meinem Anblick gerechnet. Verzeihen Sie also, dass ich Ihre Arbeit unterbreche -"

"Nun lass schon die Höflichkeiten", warf sie unverblümt ein. "Damit hast du dich selten aufgehalten, warum  also jetzt damit anfangen?" Sie beugte sich vor, das schmale Gestell ihrer Brille auf der beachtlichen Adlernase."Was tust du noch hier?"

"Es haben sich unerwartet Komplikationen ergeben. Das Portal verweigert mir den Übergang", erklärte er kurz angebunden. Wie in der vergangenen Zeit sah er sich wieder seiner Meisterin gegenüber - jene Frau, die ihm zu dem verholfen hatte, was er war. Und somit hatte sie seinen Respekt, seine Achtung. Er wäre ein Narr, würde er dies plötzlich vergessen, nur weil er gerade seine Freiheit zurückerlangt hatte. "Wie es scheint, benötige ich Ihren erfahrenen Rat, Yubaba. Ein letztes Mal."

Sie verfiel in ein Lachen, aus dem die düstere Heiterkeit sprach, die Yubaba's Herz nährte. Das Sonnen im Unglück anderer gehörte zu ihren stärksten Charakterzügen, sodass Haku bezweifelte, dass diese Hexe je an anderen Dingen derart Erheiterung gefunden hatte. "Dumm und mutig, Haku. Ganz wie immer." Yubaba betrachtete ihn, wie ein Erwachsener ein Kind ansah, das standfest behauptete, selbst bereits erwachsen zu sein."Du kommst also nicht nachhause, ist das so?"

Haku reckte das Kinn. Sicher, er war sehr geduldig, doch Yubaba's Arroganz stellte dies fortwährend auf die Probe. "Das Portal ließ mich nicht passieren."

"Nur ein wahrhaftiger Gott vermag in seine Welt zurückzukehren, Haku. Mir scheint, dass dir da etwas nicht ganz Unwesentliches entgangen ist", sinnierte sie und lehnte sich zurück. Auf einem Beistelltischchen stand eine Schatulle mit goldenen Lettern, die Haku nur allzu vertraut war und zu der Yubaba nun griff. Sie zündete sich eine Zigarette daraus an und sog den Rauch tief ein, ehe er aus ihren Nasenlöcher entstieg. "Du musst es doch spüren, oder nicht? Selbst ich kann sehen, das in deinem Inneren etwas vorgeht, und das schon seit geraumer Zeit." Haku schwieg einen Moment in der Erwartung, mehr  von ihr zu hören, Yubaba aber schien sich nicht genauer erklären zu wollen. Er schwieg in stummer Aufforderung, was die Hexe jedoch erneut mit einem süffisanten Lächeln und einem weiteren Zug an ihrer Zigarette quittierte. Erst dann fuhr sie fort: "Du weißt, wohin du dich wenden musst. Nicht ich bin diejenige, die dir da heraushelfen kann."

Haku war bemüht, jede Reaktion zu unterdrücken, doch seine Schultern strafften sich wie von selbst, seine Augen weiteten sich für einen Sekundenbruchteil, als ihn eine Ahnung beschlich, und Yubaba's wissendes Grinsen offenbarte, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. "Sie können doch unmöglich sie meinen."

"Mit dem Gedanken hast du selbst wohl schon gespielt, du dummer Junge!" Yubaba fuhr aus ihrem Stuhl hoch und stemmte die kräftigen Arme auf den Tisch, als sie sich vorbeugte. "Ich habe dich so viel gelehrt, dass du ja wohl das Wichtigste behalten haben musst!", wetterte sie. Haku erinnerte sich an all die Stunden, die Yubbaba seiner Ausbilsung gewidmet hatte und wie oft sie derart in Rage geraten war. Diesmal schien sie jedoch noch weniger ungehalten, tatsächlich regelrecht wütend. "Du weißt um die Regeln dieser Welt, Haku, und du stehst nicht länger unter dem Schutz meines Vertrags. An deiner Stelle würde ich hier nicht maulaffenfeil halten und gefälligst etwas unternehmen, bevor deine Schonfrist um ist und dir ein Schicksal bevorsteht, das schlimmer ist als verwandelt, zubereitet und serviert zu werden!"

Er schloss die Augen und sammelte seine Gedanken. Es war erst wenige Stunden her, dass er den Vertrag gelöst hatte. Ihm blieb nur dieser Tag...

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt