Fremde

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Chihiro holte ein paarmal tief Luft und untersuchte sich auf Verletzungen mit dem Ergebnis, dass sie bis auf ihre Kraftlosigkeit und die Kopfschmerzen unversehrt war. Immer wieder zog dieses schreckliche Erlebnis an ihrem geistigen Auge vorüber: schwebend im Wasser, das Gefühl zu ersticken und ein Druck in ihrer Brust, der sie zum Atmen zu drängen suchte. "Nicht", ermahnte sie sich und schüttelte die Erinnerung ab, bis sie wieder einigermaßen klar bei Verstand war. Sie schaute sich um, suchte nach einem Anhaltspunkt, der sie irgendwie darauf hinweisen würde, wie sie nach Hause käme. In der Ferne, jenseits der Wiese, sah sie winzige Lichter in leuchtendem Rot, Gelb und Orange. Es war nicht ihr Dorf und wie die Stadt wirkte es auch nicht, aber einen anderen Hinweis auf Menschen, die ihr helfen könnten, gab es nicht, also stiefelte sie los. Ihre Schuhe quietschten und gaben schmatzende Laute von sich, Schlamm bedeckte ihre Kleidung, ihre Knöchel und Arme. Selbst im Mund schmeckte sie ihn, ihre Haut überall benetzt von Sand. Es dauerte eine Ewigkeit in dem Tempo, das sie in ihrem Zustand vorlegte. Hätte sie ihren Rucksack noch, hätte sie vielleicht mit dem Handy Hilfe rufen können - wäre es trotz des Tauchgangs unbeschadet geblieben.

Es begann wieder zu gießen, die Temperaturen sanken und Chihiro beeilte sich, auch das letzte Stück des Weges hinter sich zu bringen. Das Licht stammte von runden Lampions, die an in die Erde gehauenen Holzpfählen befestigt waren. Der Ort war zu Chihiros Enttäuschung nichts, was sie vermutet hätte; es war ganz offensichtlich ein Ort der religiösen Verehrung - zumindest war es das, was sie sich darunter vorstellte. Überall waren kleine Tempel aus Stein oder Holz errichtet worden, bunt bemalt und von geschnitzten Fratzen umgeben, die nach chinesischem Volksglauben böse Geister und Dämonen abhalten sollten. Die Lampions brannten noch trotz des Regens, also waren vermutlich erst vor kurzem Menschen hier gewesen. Vielleicht wohnten sie nicht weit und es gelang ihr, sie zu finden, ehe sie sich eine Lungenentzündung oder sonst etwas einfing. Doch sie kam nicht weit, denn die Erschöpfung holte sie gnadenlos ein. Gegen einen der Tempel gelehnt sank sie in sich zusammen und verlor von Neuem das Bewusstsein.

Überall gemusterte Lampions in Rot und Gelb, sanfte Musik drang durch die Stände des Marktplatzes und amüsierten die makaberen Gestalten, die dort umherwanderten. Masken, die haltlos in der Luft schwebten, Frauen in geblümten Kimonos, gekleidete Frösche und andere tierähnliche Wesen, groß wie Menschen, bewegten sich in der Menge, durch die sie sich ihren Weg bahnte. Sie wusste nicht, weshalb sie rannte, als sei der Teufel hinter ihr her. Sie wusste nur, sie wollte fort von alldem. Zurück zum Auto, zurück nach Hause. Sie unterdrückte die Schreie, die direkt in ihrer Kehle darauf warteten, dass sie nur den Mund öffnete, um der Furcht freien Lauf zu lassen.

Wo waren sie hier gelandet? Wohin waren ihre Eltern nur  verschwunden?

Sie rannte weiter, bis die Marktstände aus ihrem Blickfeld schwanden und sie über das Gras des Hügels eilte, der sie zum Tunnel zurückbringen würde... Ruckartig hielt sie inne. Ein Meer war dort, wo vor Stunden noch eine Wiese gelegen hatte. Die Wiese mit dem weinenden Haus, dem Tunnel, ihrem Weg fort von diesem Albtraum.

Mehrere Stimmen drangen leise an ihr Ohr, die Worte schienen verschwommen, waren unverständlich. Chihiro kam erst nach Minuten wieder zu vollem Bewusstsein und konnte zwei Männer miteinander sprechen hören:

"Sie sollte schon bald aufwachen. Sie wird hungrig sein."

"Wir sollten sie nicht noch füttern, wo wir sie doch schon gerettet haben. Sie muss verschwinden."

"Wo bleibt denn dein Sinn für Gastfreundschaft?"

"Sie ist kein Gast, sie ist ein Mensch. So etwas gehört hier nicht her."

"Zügle dich! Jetzt geh bitte und hol dem Mädchen etwas zu Essen."

Chihiro blieb ganz still liegen, regte sich keinen Millimeter und behielt ihre ruhige Atmung bei. Dennoch sprach der Mann, der scheinbar bei ihr geblieben war, in angenehmer, ruhiger Tonlage: "Mach dir wegen Teban keine Gedanken. Er ist Fremden gegenüber nicht sonderlich zugeneigt, aber er hat ein gutes Herz - voller Güte und Freundlichkeit."

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt