Was da kommen mag

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Für einige Momente hatte sie fast die Hoffnung aufgegeben, je wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, da Haku keine Anstalten machte, zu einer Landung anzusetzen. Scheinbar endlos war die wilde Landschaft unter ihnen dahingezogen, die kaum einen Gedanken an Zivilisation zuließ; weite Wiesen, hohe, bewaldete Gebirge, in deren Tälern ab und an ein See auftauchte und augenscheinlich ein Loch in das dichte Grün schlug. Chihiro musste sich doch sehr wundern. Wenn sie an Japan, an ihre eigene Welt dachte, fiel ihr kaum ein derart von Menschen unberührter Ort ein. Alles hier schien so elementar, so ursprünglich, als würde die Natur hier völlig ungezwungen ihren Lauf nehmen. Keine Städte, keine Siedlungen, keine Parks. Nichts, bis auf die lebendigen Erzeugnisse einer Erde, die vom Eingreifen des Menschen verschont geblieben war.

Irgendwann war jedoch auch diese Landschaft gewichen, wurde abgelöst von den Weiten des offenen Meers. Ein Meer, in dem sich der Himmel in seinem abendlichen Kostüm aus Tönen in Rot, Gold und Rosa spiegelte. Der Horizont schien ungreifbar weit entfernt. Die sonst so klare Linie, den Himmel und die Erde in der Ferne teilte, verschwamm unkenntlich in einem nebelartigen Wolkendunst. So wunderschön und harmonisch ihr dieser Ausblick auch erschien, hielt Chihiro ihr Augenmerk eher auf das gerichtet, was sie eben nicht klar vor sich sehen konnte. Sie hatte es nicht vergessen. Haku hatte von einem Verfolger gesprochen, der sich ihnen nicht offen zeigte.

Er bewegt sich unter uns, versicherte Haku, ohne den Hauch von Besorgnis. Ich glaube, er hat uns gar nicht bemerkt. Und selbst wenn, dann interessieren wir ihn nicht.

Zu Chihiro's Beruhigung trug es nur wenig bei, denn ständig war ihr Blick zu jeder nahen Stelle geglitten, an der die nasskalte Wolkendecke, die sie umgab, aufbrach. Aber bis auf die lieblich glitzernde Meeresoberfläche hatte sie nichts entdecken können. Selbst als Haku wenig später abtauchte, hinein in einen der Wolkenrisse, war ihr nichts und niemand ins Auge gefallen, sodass sie beinahe glaubte, Haku hätte sich geirrt.

Schau nach links, Chihiro. Schau zur Horizontlinie, auf Höhe der größten Wolke, die dort vorbeizieht, forderte Haku sie ermutigend auf. Siehst du den Windstrom? Durch die wirbelnden Wasserpartikel bricht sich an der Stelle das Licht.

Wieder blickte sie auf das melodische Szenario vor sich, folgte den Anhaltspunkten, die Haku ihr aufgab, bis sie den Strom tatsächlich ausfindig machen konnte. Noch nie hatte sie einen derartigen Luftstrom sehen können; eine spiralförmige Säule, die sich am Himmel wand wie eine Schraube. Wenn Chihiro hinsah, bemerkte sie, wie diese Säule an manchen Stellen in Regenbogenfarben glitzerte - die Lichtbrechung, von der Haku gesprochen hatte.

Hast du ihn?

"Ja"

Gut. Und jetzt sieh hindurch!

Verwirrt zog sie eine Mine. "Hindurchsehen? Wie meinst du das?"

Stell dir vor, du würdest alles durch eine Milchglasscheibe sehen: alles, was du siehst, ist verschwommen und undeutlich. Wenn du das überwindest, kannst du sie sehen.

Sie? Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das farbig flimmernde Lichtspektakel und bemühte sich, mehr darin zu erkennen, als ein paar leuchtende Funken inmitten eines gewundenen Windkanals. Sie fokussierte sich darauf, verfolgte die Windungen des Stroms. Es dauerte eine Weile, aber schließlich eröffnete sich ihr ein Anblick, der sie wie gebannt darauf starren ließ: die fast transparenten Luftspiralen, die eben noch so deutlich vor ihren Augen wirbelten, verwandelten sich in eine umrissene Ansammlung von Locken, eigenartig peitschend im meerfeuchten Wind. Nie hatte Chihiro solche Haare gesehen - erkennbar nur durch die funkelnden Umrisse, die im Sonnenlicht angestrahlt wurden wie die Wellen an der Wasseroberfläche. Und sie gehörten zu einem bildschönen Gesicht, das Chihiro allerdings kaum ausmachen konnte. Eine Frau, die in körperloser Gestalt dahinflog wie ein Geist.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt