Sen und Chihiro

182 14 1
                                    

Augenscheinlich hatte sich nichts verändert. Es war seltsam, aber Chihiro empfand es beinahe wie eine Heimkehr, als sie über die Brücke mit dem roten Geländer auf das riesige Haus zulief. Seine jadegrünen Dächer hatten ihr bereits aus der Ferne gewunken, die großen gläsernen Fenster ihr einen bekannten Ausblick versprochen und auch aus den Schornsteinen trat Rauch aus - ein Zeichen dafür, dass Kamaji bereits die Öfen anfeuerte. Das Badehaus rief Sen heim.

Nicht Sen, erinnerte sie sich. Ich bin Chihiro. Sen gab es nicht - es hatte sie nie gegeben. Aber der Name erweckte in ihr Erinnerungen an wunde Hände, mühsame Schrubbarbeit und hunderte kauziger Gestalten, die in Becken aller Größen badeten und sich an gigantischen Tafeln gütlich taten. Tafeln voller Speisen, aromatische Düfte, die sich durch die Flure zogen und einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. Chihiro meinte, sie auch jetzt wieder wahrnehmen zu können, noch bevor sie überhaupt eingetreten war.

Ein Teil von ihr sträubte sich dagegen diese Schwelle von neuem zu überschreiten, während ein anderer dem sehnlichst entgegenfieberte. Es war ein merkwürdig, so zerrissen zu sein.

Sie ging mit ausdrucksloser Mine voran, ließ die Hände locker an den Seiten hängen und rief sich den Weg ins oberste Stockwerk in Erinnerung. Sicher wusste Yubaba um ihre Anwesenheit. Wie sie wohl reagieren würde? Chihiro war nicht so naiv zu erwarten, aufs Freundlichste willkommen geheißen zu werden. Viel wahrscheinlicher war es, die Hexe würde ihre einstige Drohung wahr machen und sie in einen klumpen Kohle verwandeln.

Chihiro hatte das Haupttor fast erreicht, als ihr ein weit weniger düsterer Gedanke kam: Vielleicht würde sie Lin wiedersehen. Ob sie nach all den Jahren noch immer hier arbeitete? Wie standen die Chancen, sie einen Moment sprechen zu können? Chihiro konnte sich gut ausmalen, was Lin ihr zu sagen hätte: Bist du verrückt, dass du hierher zurückkommst? Du bist ja lebensmüde!

Lin. Ich würde sie gern wiedersehen, dachte Chihiro ein wenig wehmütig und drückte das kleine Gartentor auf, durch das Haku sie damals geschleust hatte. Dass noch keine Gäste in Sicht waren, wunderte sie kaum, schließlich war es noch früh am Morgen. Sie erschienen erst mit dem Entzünden der Lampen bei Sonnenuntergang - ein geringer Trost für Chihiro. Es war die einzige Form von Leben, die Einzug erhielt in die kleine, touristische Ortschaft, die sich aus eng beieinanderstehenden Imbissen und Sitzgelegenheiten zusammensetzte.

Der kleine Vorgarten bestand nur aus Grün: tiefgehaltene Hecken, ein paar Büsche, eine Rasenfläche mit einem kurzen, steinernen Pfad, der zur Schiebetür in die Personalgänge führte. Der Weg war ihr so vertraut, dass sie sich nicht weiter umsah als sie weiterging, ihre Socken in die Schuhe stopfte, sie in die Hand nahm und ins Badehaus schlich. Sie hörte das Huschen in den entlegeneren Fluren; die fleißigen Putzkräfte, die die Böden schrubbten, die Köche, die sich in der riesigen Küche zu schaffen machten und alle Vorbereitungen für den Abend trafen. Bekannte Geräusche, die Chihiro im Inneren beruhigten, weil sie einst Teil von all dem hier gewesen war.

Sie schlüpfte in einen anderen Gang, der sie zu den Treppen führte wo der Trakt des Personals in den abends florierenden Bereich der Gäste überging. Tatsächlich war ihr das pompöse Treppenhaus, das einer nahezu majestätischen Halle in Rot, Braun und Gold gleichkam, einer der eindrucksvollsten Anblicke des Gebäudes. Aber nichts ging über den gewaltigen Hortensiengarten, durch den Haku sie geführt hatte, um die Schweineställe aufzusuchen...

Denk nicht daran, rief sie sich zurecht, aber leider zu spät: Sie kam nicht umhin sich zu belehren, dass es keine gewöhnlichen Schweineställe waren. Dass das leckere Essen im Grunde kein Tier beinhaltete. Dass es menschliche Seelen waren, die verwandelt, gemästet, zubereitet und an Götter verfüttert wurden. Dass die Düfte, die sie Sekunden zuvor noch als so schmackhaft empfunden hatte, ihr nun Übelkeit bereiteten.

Strammen Schritts ging sie voran, während das anfängliche Wohlgefühl langsam wieder in ihr aufblühte, je weiter sie sich von diesen Gedanken entfernte. Sie erblickte schon die Treppe, als Stimmengemurmel immer lauter wurde und eine Gruppe sich näherte.

"... sollt die Türen geschlossen halten!", rief jemand harsch, woraufhin Chihiro sich, eng an die Wand gedrückt, in einer Nische versteckte. Sie wartete bis die Geräusche verklungen waren und stahl sich die Treppe hinauf, passierte den Zwischenraum und folgte einem etwas breiteren, weniger schlichten Korridor ins innere Zentrum des Badehauses. Die Lichter an den Wänden brannten und tauchten die Räumlichkeiten in eine angenehme Atmosphäre, die von Wärme und Heiterkeit zeugte. Der goldene Prunk und die edle Vertäfelung an den Wänden erwirkten ein alles einnehmendes, elegantes Ambiente, sodass die Arbeiter, welche hier und da aufräumten, die Böden auf Hochglanz brachten und jeden Staubkorn entfernten, im Gesamtbild untergingen, so als wären sie Ameisen in einem prachtvollen Rosengarten.

Chihiro musste sich zusammenreißen, nicht zu sehr in der Vergangenheit zu versinken, welche in ihr aufblühte als sie den Tresen des Aufsehers erblickte und sich der dahinter verstauten Plaketten bewusst wurde, die in ihr einstige Aufgaben wachriefen. Obwohl einige Jahre zwischen dem, was war, lagen, fühlte sie eine ungemein starke Verbindung dahin. Ein Schatten, fast zum greifen nahe wie das eigene Abbild in Spiegelglas. 

Sie durchstreifte die Flure wie ein Gespenst, versuchte möglichst unbemerkt voranzukommen. Sie gelangte zu einem der großen, roten Aufzüge, die in die oberen Stockwerke hinauffuhren, und wartete mit etwas Abstand, dass die Türen sich öffneten. Das vertraute Läuten erklang und Chihiro wollte darauf zugehen, als sie erwas abrupt innehalten ließ. Einem Impuls folgend zog sie sich schnell hinter eine der roten Säulen zurück, darauf bedacht, um keinen Preis Aufsehen zu erregen, als sie Stimmen aus dem Aufzug hörte, die leise miteinander sprachen. Chihiro konnte kaum ein Wort verstehen, aber die Stimmen waren ihr nicht fremd. Erst als sie rasch verklangen wagte sie es, den Kopf zu drehen und denjenigen nachzusehen. Der blonde Schopf und diese drahtige, aber athletische Statur waren ihr ziemlich bildlich im Gedächtnis geblieben, nur verband sie damit alles andere als faszinierte Anziehung. Eher Schrecken und Abneigung, untermalen von Misstrauen.

Teban, mit der schwarzhaarigen Schönheit Yama an seiner Seite.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt