Stimme

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Chihiro...

Sie schlug die Augen auf und blickte in den klaren blauen Himmel, an dem die Wolken rasch vorüberzogen. Der Wind nahm Fahrt auf und brauste über die Wiese, fuhr durch die Grashalme und nahm die Samen der Pusteblumen mit sich; weiße Schmetterlinge stiegen auf und flogen über Chihiro hinweg. Sie setzte sich auf und schaute den Hügel hinunter, auf den sie gestiegen war. Der Wagen ihrer Eltern fuhr in die Auffahrt zu ihrem Haus. Chihiro musste eingeschlafen sein, dass die beiden schon wieder zurück waren; es kam ihr wie Minuten vor. Seltsame Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorüber; ein Raum voller Schlafsäcke, ein Balkon mit hölzernem Gerüst, der Ausblick auf ein weites Meer, auf dessen unbewegter Oberfläche sich die tiefe Nacht widerspiegelte. Weiße Vögel, die in seltsamer Formation über dem Wasser kreisten... 

Sie schüttelte diese Gedanken ab, rappelte sich auf und streckte die schläfrigen Glieder, ehe sie sich in Bewegung setzte und zurück zum Haus lief.

"Ah, da bist du ja", sprach ihre Mutter und zwinkerte ihr zu. "Sieht aus als hättest du Spaß gehabt". Sie kam zu Chihiro und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, pflückte ihr die Löwenzahnsaat von der Wange und lächelte.

"Papa?!", rief Chihiro und trat an den beladenen Hänger des Autos heran. "Ist er das etwa schon?", fragte sie aufgeregt und machte sich an der Abdeckung zu schaffen. Ihr Vater kam aus der Garage und schob Chihiro sacht zur Seite, um die Ladefläche zu öffnen. "Halt, warte! Ich mache das. Du kannst ihn ja doch nicht alleine runtertragen.", sagte er schmunzelnd. 

Chihiro musste an sich halten ihren Vater nicht noch weiter anzutreiben, ihre Ungeduld kannte im Augenblick keine Grenzen. "Der Wahnsinn, dass das so schnell ging. Ich freu mich ja so!". Sie trat zu ihrer Mutter heran und drückte sie kräftig. Sie lachte überrascht und erwiderte die Geste. "Wir haben ihn schon für dich vollgetankt. Wir dachten, du willst bestimmt gleich eine Testfahrt machen", meinte sie und drückte die Schulter ihrer Tochter. Chihiro lächelte und beobachtete gespannt, wie ihr Vater das Prachtstück von der Abdeckung befreite.

"Au ja, unbedingt". Das herrliche Zitronengelb trat unter dem tristen Grau der Plane hervor und ließ Chihiros Herz höher schlagen. Seit sie ihre Fahrerlaubnis im letzten Jahr gemacht hatte, wartete sie auf einen eigenen fahrbaren Untersatz. Nun war ihr Motoroller endlich da. "So, bitte sehr. Mach aber langsam! Ich hab ihn vor Ort schon getestet - fährt sich wie eine Eins", merkte ihr Vater an und schob den Motoroller zu Chihiro heran. Sie griff nach dem Lenker und setzte auf. "Genau wie ich es mir vorgestellt habe. Vielen Dank, wirklich!"

Ihre Mutter reichte ihr den Helm: "Pass aber gut auf, wenn du fährst. Und am besten du bleibst erstmal in der Nähe und übst dich hier in der Umgebung damit ein, ehe du in die Stadt fährst." Chihiro nickte. Sie konnte ihre Freude kaum zügeln und gab Gas, nachdem sie die Spiegel geprüft hatte. Hinter ihr wurde die Auffahrt immer kleiner, und ihre Eltern verschwanden außer Sicht. Der sanfte Wind nahm zu und wickelte ihr das lange braune Haar um den Hals. Sie musste es dringend bald schneiden, es reichte ihr schon wieder fast bis zum Bauchnabel. Sie genoss die ausgedehnte Spritztour, die sie über die Felder und durch den Wald führte. Die Nachbarn winkten ihr zu und riefen ihr Glückwünsche nach, welche im Tosen des Windes bald untergingen. 

Als sie den kleinen Bach erreichte, stoppte sie die Maschine und stieg ab. Auf ihrer Stirn bildete sich der Schweiß und sie dachte nach. Es war gerade erst halb sechs - sie war tatsächlich eine Stunde durchgefahren - , also blieb ihr noch Zeit ehe ihre Eltern sie zurückerwarteten. Chihiro schob ihren Roller ein Stück den Verlauf des Bachs entlang, bis sie vom Feldweg etwas Abstand gewonnen hatte und den See erreichte. Nicht, dass ihr Dorf vor Dieben und Schlägern wimmeln würde, aber sie wollte kein Risiko eingehen indem sie ihn an der Straße stehen ließ, schließlich eröffnete ihr der eigene fahrbare Untersatz verlockende Möglichkeiten.

Verborgen hinter hohen Gräsern legte sie ihre Kleidung ab und band ihr Haar zu einem Knoten. Das Wasser war kühl, beinahe kalt, als sie hineinrannte, um sich das Trara um die Temperatur zu ersparen. Der Himmel klärte sich mehr und mehr auf, bis alle Wolken verschwunden waren und Chihiro sich im Wasser treiben ließ. Sie lauschte dem Wind, der die hohen Gräser und jedes Blattwerk rascheln ließ.

Chihiro 

Sie horchte auf und brachte sich schnell in eine senkrechte Position, die ihren Körper rasch unter der Wasseroberfläche verschwinden ließ. Sie blickte sich um, reckte den Hals und suchte, doch sie konnte niemanden ausfindig machen. "Wohl nur Einbildung", murmelte sie und schüttelte den Kopf.

Bitte, Chihiro  

Keine Einbildung. Sie tat ein paar Schritte aus dem See hinaus, bedeckte ihre Blöße mit vor der Brust verschränkten Armen und überblickte die wilde Wiese. "Hallo?", rief sie einen Moment später und runzelte die Stirn, "Wer ist denn da?" 

Keine Antwort.  

Sie wartete noch einige Augenblicke, ehe sie sich schnell wieder anzog und - in ihrer Verunsicherung - die Wiese ablief. Hinterher fanden sich etliche Kratzer vom Gestrüpp an ihren Schienenbeinen und überall juckende Stellen von irgendwelchen Gewächsen, doch darüber ärgerte Chihiro sich kaum. Viel mehr war es ein inneres Gefühl, dass sie beschäftigte - das Gefühl, als wäre sie nicht allein - als würde jemand sie erreichen wollen. Diese Stimme, kaum mehr als ein heiseres Geflüster, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging und Einzug in ihre tiefsten Gedanken nahm. Das Konzentrieren auf der Rückfahrt fiel ihr schwer, und immer wieder ertappte sie sich, wie sie suchend in den Rückspiegel schaute.



Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt