Der unendliche Fluss (1/3)

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Was nun geschah, erinnerte Chihiro an das abrupte Aufleuchten einer Leinwand in einem dunklen Kinosaal. Haku erlaubte ihr durch die Verbindung, die zwischen ihr und ihm bestand, mit seinen Augen zu sehen. Dieselben Augen, durch die auch die Bestie blickte. Die Bestie, die nun mitbekommen hatte, dass sie sich jetzt nicht mehr nur mit einem Mitbewohner herumschlagen musste, sondern mit zweien.

Obwohl Haku Chihiro von allem, was um sie herum geschah, abgeschirmt hatte, schien dieser Schutz nun zu bröckeln wie eine marode Mauer. Chihiro wurde klar, es musste ihn ungemein Energie gekostet haben, sie aufrechtzuerhalten. Sie fühlte die ungebremste Wut, spürte den abgrundtiefen Hass des Dämons, der noch immer auf dem Rücken im Wasser fixiert war und unablässig an seinen Ketten zerrte. Wie es aussah, waren nicht etliche Minuten verstrichen, wie Chihiro befürchtet hatte, sondern kaum ein paar Sekunden.

Die Zeit vergeht anders, wenn du keinen Körper mehr hast, bemerkte Haku in einem Anflug von Traurigkeit. Chihiro dachte daran, wie lang sich die Tage für ihn angefühlt haben mussten, in denen der Dämon völlig von ihm Besitz ergriffen hatte. Hatte er alles mitansehen müssen? War ihm keine Regung seines Körpers entgangen, wo er doch gar nicht dafür verantwortlich war?

Chihiro wurde übel als sie daran dachte, was Haku hatte erdulden müssen, weil ihm die Kraft gefehlt hatte etwas dagegen zu unternehmen; nicht mehr Herr seines Körpers zu sein, zuzusehen, was jemand Anderes Schreckliches mit den eigenen Händen tat, Schmerzen zu spüren, die einem nicht angedacht waren und trotzdem auf einen zurückfielen.

Ja. Er hatte jeden körperlichen Schmerz gefühlt, der ihm beigebracht wurde, auch wenn er dem Dämon hatte gelten sollen. Ja. Er hatte hilflos zusehen müssen, wie der Dämon Angst verbreitete und Menschen verletzte, Chihiro eingeschlossen.

Haku entging ihr Grübeln nicht. Ob er nun wusste woran sie gedacht hatte oder nicht, drückte er ihre Hand und lenkte ihre Aufmerksamkeit dadurch zurück auf den verzweifelten Kampf, der dort im Meer stattfand. Und wie zur Bestätigung nahm Chihiro wahr, dass jemand an der Zeit zu drehen schien. Alles, jeder Handgriff, jede Bewegung ging viel langsamer vonstatten, ähnlich wie in Zeitlupe. So musste sich die Ewigkeit wirklich grausam anfühlen.

Chihiro haderte mit sich, konnte dann aber nicht mehr verhindern, nach ihrem Körper Ausschau zu halten, den sie auf dem Bauch des Dämons zurückgelassen hatte. Die Vorstellung war befremdlich, als hätte sie eine kaputte Jacke abgestreift und irgendwo abgelegt. Ihr schauderte bei dem Gedanken daran, wie kaputt diese Jacke war.
Ihr Körper lag nicht mehr dort. Vermutlich hatte der Dämon ihn abgeschüttelt, aber wo war er hin? Chihiro konnte ihn nirgends entdecken.
Als nächstes erblickte sie die Novizen, die unerbittlich mit allem kämpften, was sie aufbieten konnten. Teban war gerade dabei sich mit einer eigenartig gebogenen Keule auf den Dämon zu stürzen, von der Chihiro glaubte, dass sie, ihrer Farbe und ihrem durchscheinenden Glanz nach, aus Glas oder Kristall bestand. In Tebans Gesicht spiegelte sich der eiserne Wille, der jedem Gegner verkündete, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Dass dieser Blick auch Chihiro gegolten hatte, war nicht gerade lange her. Ein kalter Schauder überlief sie wie kleine Rasierklingen, die über ihre Haut strichen.

Wir müssen was tun, meinte Chihiro steif und betrachtete Yama, Shouta und Yin, deren Kräfte stark nachgelassen hatten. Sie stemmten sich gegen die Ketten, mit denen sie den Dämon mühsam festhielten, konnten sich aber kaum auf den Beinen halten. Wäre Chihiro nicht in der Lage gewesen, ihre Energien so deutlich vor sich zu sehen als wären sie farbige Schleier, die ihre Körper umgaben, wären der Schweiß auf ihren Stirnen und der schwindende Mut in ihren Augen der Beweis gewesen. 

Die Aura des Dämons zu erkennen hatte wesentlich mehr Mühe erfordert, hatte ihr enorme Konzentration abverlangt, aber nun schienen Chihiro die Auren aller Anwesenden förmlich entgegenzuspringen, was wohl ihrem neustem Existenzzustand zuzuschreiben war. Ihre Wahrnehmung als körperloses Etwas war so gänzlich anders, so viel elementarer und intensiver, dass es ihr Angst machte; ein Zeitgefühl, das ihr fast schon erlaubte, jeden einzelnen Wimpernschlag zu betrachten, Gefühle, die sie mit ihrer Intensität ganz konfus machten, ein Blick, um Energien so ausdrucksstark wie ein Feuerwerk  zu sehen, und eine Berührung, die ihr - im wahrsten Sinne - direkt ins Herz ging.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt