Opal (1/2)

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Man nannte ihn auch den Spiegelgarten. Der Opal war etwas, von dem Haku bisher nicht erwartet hatte, je damit in Berührung zu kommen. Dieser Ort, den man auf keiner Landkarte finden würde, war ungreifbar und fern, mehr eine wundersame Erscheinung und so unstet wie ein lebender Organismus. Viel wusste Haku darüber nicht, nur was ihm im Laufe der Zeit von Yubaba und Zeniba herangetragen worden war. Erstrebenswert klang nichts davon, aber eine Magie wie diese war unvergleichlich. Ein Ort, der jedem anders erschien, der ihn betrat. Mal in der Gestalt eines riesigen Palasts, mal eine vernebelte Waldlichtung, mal ein tatsächlicher Garten voll sonderbarer Gewächse oder trostloses, steiniges Ödland.
Wahrscheinlich war Haku deshalb so hingerissen von der Schönheit dessen, was sich ihm bald bot.
Eine ganze Weile wandelte er in Dunkelheit, so durchdringend, dass er mit geschärften Sinnen nicht erahnen konnte wohin der Pfad ihn führte. Es waren die Geräusche, die ihn lenkten, ihm sagten, in welche Richtung er gehen sollte. Das rhythmische, leise Tropfen von Wasser, das Echo einer Höhle. Bald lichtete sich die Finsternis und gab den Blick frei auf Gestein: Ein Tunnel aus dunklem Türkis in Grün- und Blautönen, deren intensive Farbwirkung ihren Betrachter ehrfürchtig innehalten ließ. Hellblau, Azur, Indigo, Aquamarin, Moos- und Olivgrün, Jade und Smaragd in etlichen Schattierungen und Akzenten, die ineinander verliefen, durchsetzt von vereinzelten Steinen, die seltsam rot, braun und gelb gesprenkelt waren.
Als Haku sich vorwärts wagte, vernahm er im Hintergrund der beherrschenden Stille ein Wasserplätschern und den ihm so vertrauten Duft feuchter Erde in der regengeschwängerten Luft. Mit jedem Atemzug schmeckte Haku eine wilde Nässe, roch förmlich das Flussbett und den flüsternden Wind.
Es war wie ein Sommertraum des Lebens, das er einst geführt hatte, bevor der Fluss in der Menschenwelt zugeschüttet worden war.
Er durchschritt den Tunnel, einem sanften, gelbgrünen Licht entgegen. Die Luft trübte sich, denn ein Dunst, der sich doch sehr von wetterbedingtem Nebel unterschied, stieg vom Boden auf und hüllte alles in einen durchlässigen Schleier. Der Boden, auf dem er ging, war uneben und stellenweise von feuchtwarmen Gräsern und Moos bewachsen. Das Gestein des Tunnels öffnete sich zu einer Grotte, deren kuppelartige Decke gerade hoch genug war, sodass Haku eintreten konnte.
Das matte Licht stammte nicht von der Sonne. Eng ans Gestein geschmiegt ruhten hier und da Schmetterlinge, deren Flügel in ihrer Beschaffenheit das Licht einfingen und reflektierten. Unzählige Glühwürmchen schwirrten umher und erhellten das Dunkel. Selbst einige Gräser schienen aus dem Innersten eines jeden Halms heraus zu glühen.

Haku sammelte sich und ging weiter, ließ sich nicht von den atemberaubenden Lichtspielen gefangen nehmen, die sich schillernd an den Steinen zeigten, als bestünden sie aus schimmerndem Wasser. Haku ahnte, dass dieses Szenario eigens auf ihn zugeschnitten war. Yubaba hatte ihm bei den wenigen Worten, die sie über den Opal verloren hatte, etwas verraten, an das er sich plötzlich nur zu gut erinnerte:

"Es ist, als würde man dich ins Paradies führen. Besser hätte ein Träumer nicht träumen können, und doch ist alles nur Illusion, um dich butterweich zu klopfen und in Stücke zu schneiden."

Haku konnte nicht abstreiten, dass dies wahrlich ein schöner Trug war. Er hatte alles vor sich, was ihm je Frieden beschert hatte, und doch sagte ihm sein Verstand, dass es nicht echt war. Nicht echt sein konnte. Es war ein Köder, den er schlucken sollte, ganz eindeutig - und trotzdem fiel es unsäglich schwer sich dies vor Augen zu halten, während sein Inneres sich nach dem sehnte, was seine Sinne ihm wahrmachen wollten, nach dem Gefühl, das er leise in sich aufsteigen spürte.

Wozu zeigt der Opal mir das, fragte Haku sich, als er an der Steinwand entlangschritt und beobachtete, wie sich die Oberfläche des Gesteins schleichend wandelte. Die markanten Farben erinnerten immer stärker an das Farbenspiel des Wassers, als würde der Mond nun sein Licht darauf werfen und zum Maler dieses einzigartigen Szenarios werden. Haku's Wahrnehmung veränderte sich, als würde in seinem Kopf ein Film ablaufen, wie eine zum Leben erweckte Erinnerung; Wasser, das Wellen schlug. Haku hatte die Gischt der See in der Nase, fühlte fast körperlich den Strom des Gewässers und des Lebens, das sich darin unaufhörlich bewegte - von der kleinsten Alge zum größten Fisch. Das Gefühl brauste gleich purer Lebenskraft durch seine Adern, spülte Yubaba's Worte fort und hinterließ keinen anderen Gedanken als das Flehen danach, dass es real sein sollte.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt