Ich finde dich

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Chihiro war in die Schlafräume geschlichen und klaubte sich aus den Schränken ein paar Kleidungsstücke zusammen, die in etwa ihre Größe hatten. Als sie ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe sah, erkannte sie umso klarer, was Kamaji ihr hatte deutlich machen wollen: Auf den ersten Blick - in den lachsfarbenen Sachen, die sie in der Art auch früher im Badehaus getragen hatte - sah sie zwar das Mädchen, dass sie immer schon gewesen war, dennoch hatte sie sich verändert. Ihre Gesichtszüge waren feiner geworden, ihre braunen Augen schienen zu lodern, als würde sich die Energie, die sie im Inneren spürte, in ihnen spiegeln und ihr Leben einhauchen. Wachsam, sich ihrer selbst bewusst und kühner, als sie sich in den letzten Tagen gefühlt hatte. Schon seltsam, dass sie selbst es bislang nicht an sich erkennen konnte und Kamaji ihr erst den Kopf hatte waschen müssen, damit sie es endlich selbst sah.

Jammern war echt nicht hilfreich, reflektierte sie und musste über sich selbst den Kopf schütteln, wobei ihr zum Pferdeschwanz gebundenes Haar über den Stoff am Rücken hin und her strich. Fokus, dachte sie neuen Mutes und zog das Haargummi nochmals nach. Es fühlte sich an wie das Gewappnetsein vor Beginn einer großen Schlacht.

Sie war Kamajis Anweisungen gefolgt und wartete nun hinter der kleinen Luke, die sie wieder in den Heizraum bringen würde. Den Armreif, den sie noch immer am Handgelenk trug, legte sie ab und beobachtete, wie der Fuchsgeist sich zurück verwandelte, wie zum Dank mit seinen Knopfaugen zwinkerte und dann davonflog. Schließlich erklang Gemurmel aus dem Heizraum, die Stimmen aber konnte sie nicht zuordnen. Nach ein paar Minuten wurde es still und es klopfte zwei Mal an der Luke. Chihiro schlüpfte auf das Zeichen hin hinein und sah sich Kamaji gegenüber, der am Deckel einer großen Holzkiste nestelte. "Hier drin wirst du dich verstecken. Ich habe sie verhext, also wird niemand das Gewicht bemerken."

Sie holte noch einmal tief Luft und machte sich daran, in die mit Einschlagdecken ausgelegte, nach Kräutern duftende Kiste zu klettern. "Danke, Kamaji. Ich werde es nicht vermasseln."

Er zwinkerte ihr zu. "Das weiß ich, Kleine. Und jetzt rein da, bevor sie zurückkommen." Er schloss den Deckel und alles wurde dunkel. Chihiro spürte die Vibrationen im Holz, als er Nägel hineinschlug, und hörte wieder Stimmen, die durch die Wände der Kiste nur schwer zu verstehen waren. In ihrem Warten, dass sie davongetragen wurde, versuchte sie sich zu entspannen. Alles Kommende würde anstrengend genug werden.

Im Nachhinein hätte sie Kamaji in Bezug auf ein paar Einzelheiten um Erklärung bitten sollen. Beispielsweise wie ihre "Mitfahrgelegenheit" aussah. Wie sollte sie das Gefühl beschreiben, sich in einer schwebenden Kiste fortzubewegen? Am ähnlichsten schien ihr der Vergleich, mit einem Fahrstuhl zu fahren. Die Sekunden des freien Falls, die ihr den Magen in den Hals aufstiegen ließen, und das ständige Hin und Her, als befände sie sich in einem Kettenkarussell - wobei sie die Dinger schon als Kind bewusst gemieden hatte. Ab und an hatte sie Mühe, ihre Mahlzeit bei sich zu behalten (überflüssig zu erwähnen, dass sie im Badehaus von jedem Fisch und jedem Fleisch die Finger gelassen hatte).

An Schlaf war nicht zu denken. Ihre Gedanken kreisten um das Gespräch mit Kamaji und ihre Vorstellung all der Dinge, die jetzt auf sie zukamen, sobald sie diese Kiste verließ. Sie versuchte zudem, sich das Kloster und dessen Umgebung ins Gedächtnis zu rufen und in ihrem Geist eine Karte zu konstruieren. Wo würde man einen Drachen dieser Größe unterbringen?, fragte sie sich und rieb nachdenklich die Finger aneinander, während die Kiste immer wieder ins Schaukeln geriet. Mit dem, was sie über den Aufbau des Klosters wusste, konnte sie sich auf diese Frage keinen Reim machen. Haku würde bestimmt nicht in einer der kleinen Schlafkammern untergebracht sein und auch nicht in der Großen Halle, in der die Novizen ihrer Gartenarbeit nachgingen. Chihiro vermutete nicht, dass ein Kloster so etwas wie einen Kerker besaß oder eine Folterkammer - das wäre wohl selbst im Zauberland unpassend. Sie erinnerte sich daran, wie sich kurz nach der Zerstörung der Großen Halle alle Novizen und Mönche im Versammlungsraum zusammengefunden und über den Drachen diskutiert hatten. Was hatte Saya gesagt?

"Unsere wertvollsten Zauberformeln werden bekanntermaßen im Hohen Turm, etliche Meilen von hier entfernt, sicher unter Verschluss gehalten. Warum also das Kloster? Hätte er diebische Absichten gehabt, wäre er direkt zum Turm gen Süden geflogen."

Ein Turm, in dem geheimes Wissen sicher verwahrt wurde, könnte bestimmt auch ein Ort ihrer Forschung sein. Aber würden sie dort einen Drachen unterbringen? Tests an ihm durchführen?

Chihiro hoffte, dass dem nicht so war. Sie hatte keine Ahnung, wo sich der Turm genau befand. Es würde Zeit kosten, das herauszufinden, und noch mehr Zeit, um dorthin zu gelangen. Und Zeit war momentan kein Gut, mit dem sie nicht verschwenderisch umgehen durfte.

Einige Stunden mussten vergangen sein. Enorme Erleichterung überkam Chihiro als sie spürte, wie die Kiste auf den Boden gesetzt wurde und die Schwerkraft wieder normal auf sie einwirkte. An magischem Reisen würde sie wahrscheinlich nie Freude finden. Sie lauschte nach draußen, presste sicherheitshalber das Ohr fest an die Holzwand und horchte auf jedes mögliche Geräusch, doch es herrschte absolute Stille. Nach einem Moment überwand sie sich und ging in die Hocke, stemmte sich mit Schultern und Händen gegen den Kistendeckel und richtete sich kraftvoll auf. Der Deckel gab sofort nach und Chihiro verschaffte sich rasch einen kurzen Überblick: der Raum war recht dunkel und die Tür geschlossen, ein kleines, schmales Fenster weiter oben in der Wand spendete ein wenig Licht und gab den Blick auf weitere Kisten frei, die überall kreuz und quer standen.

Alles in Allem scheint es sicher, dachte sie und kletterte aus der Kiste. Ihre Beine dankten ihr die wiederaufgenommene Bewegung und das Strecken und Dehnen, mit dem sie ihre Glieder wieder lockerte. Ohne weiter darüber nachzudenken schob sie eine der Kisten an die Wand, stellte sich darauf und griff nach dem Fenstersims, um sich daran hochzuziehen. Es war ein Krampfakt, aber es gelang ihr trotzdem. Sie zog sich mühsam hinauf - zum ersten Mal dankbar für die schmalen Hüften und die flache Brust, als sie sich durch das Fenster nach draußen auf grünen Rasen zog. Offenbar befand sie sich in einem der kleineren Gärten, die sich rundherum um das Kloster befanden. Was ihr nicht entging, als sie sich aufrichtete und sich umschaute, war eine erschreckende Tatsache: Keine der Pflanzen, die in ihrer Erinnerung das Kloster bunt und lebendig hatten erscheinen lassen, trug mehr eine Blüte. Es schien, als würden die Gewächse der Gärten, die Chihiro überblicken konnte, eingehen. Zwar trugen die meisten noch ihre Blätterkleider, aber es war kein leuchtendes Grün. Hier leuchtete überhaupt nichts mehr. Alles schien kraftlos und unheimlich trübe, als wären die Pflanzen erkrankt oder würden einen harten Winter miterleben. Aber es war kein Winter - Himmel, es war ja nicht einmal sonderlich kalt, gerade einmal Spätsommer.

"Was zum...", murmelte sie und ging vor einem der Büsche in die Hocke, um das Blattwerk genauer zu betrachten. An den äußersten Rändern färbte es sich schwarz.

Dann ist Haku also doch hier.

Irgendwo.







Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt