Beschützer und Beschützte

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Sie klammerte sich mit der ganzen Kraft ihrer Beine an ihn und zwang sich ruhiger zu atmen, als sie sich schon eine Weile in der Luft befanden. Die ersten Meilen flogen sie jenseits der Wolkendecke - wo der Wind so stark umschlug, dass er ihr gewickeltes Gewand beinahe löste, hätte sie es nicht irgendwie festgehalten. Aber bald schon tauchte der Drache ab, als die Temperaturen für Chihiro mehr als nur unangenehm wurden, sie vor Kälte am ganzen Leib zitterte und sich schutzsuchend an seinen warmen Körper presste.

Wir landen bald, sprach er zu ihr und Chihiro überkam Erleichterung beim nun wieder sanften Klang seiner Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie sie noch einmal hören würde, nachdem sein Wesen sich so schlagartig gewandelt hatte. Die Furcht, die seine bestialische Seite in ihr auslöste, ging ihr durch Mark und Bein und zerschlug das Vertrauen, welches ihr inneres Selbst zu dem Drachen zu fassen suchte. Sie wollte verstehen, was es war, das diese Seite in ihm zum Vorschein brachte. Wollte wissen, was dahintersteckte und was es mit all dem auf sich hatte, was sie über ihn zu wissen glaubte. Spielten ihre Erinnerungen ihr Streiche? Himmel, sie wusste ja nicht einmal, wie er hieß...

Haku, beantwortete er die Frage, weißt du nicht mehr?

Wie sollte sie das in Worten ausdrücken? Alles, was sich ihr offenbarte, waren jämmerliche Schnipsel, die man aus einer Geschichte gerissen hatte; Träume, welche sie zwischen Träumen und Erinnerungen nicht unterscheiden konnte, flüchtige Bilder, von denen sie nicht wusste, wie sie zu deuten waren. 

Ich kann mir vorstellen, wie verwirrend das alles für dich ist. Ich musste aber fragen.

"Sag mal, bist du die ganze Zeit über in meinem Kopf?", rief sie entsetzt und schaute beunruhigt in die über ihnen liegenden Wolken, die sich in einem dunklen Grau-Blau vor die sinkende Sonne schoben. "Wir sollten schnell irgendwo Schutz suchen. Blitze suchen sich immer die nahegelegenste Einschlagstelle und ich kann auf einen knusprig gegrillten Drachen und sein plus Eins verzichten."

Ich kenne den Himmel gut. Nur keine Angst.

Chihiro kniff die Augen zusammen, als sie die Belustigung in seinem Unterton vernahm, und presste die Lippen zu einer schmalen Linie - eine dumme Angewohnheit, wenn sie bockig wurde, wie ihre Mutter es so schön beschrieb. Ihre Mutter. Ihre Mutter, die - ohne die Möglichkeit der Erklärung - einfach vor dem unbenutzten Bett ihrer verschwundenen Tochter stehengelassen wurde, als sie sie zum Frühstück hatte wecken wollen. Bestimmt machte sie sich schreckliche Sorgen. Hatte ihr Vater schon die Polizei verständigt? War eine Suchaktion im Gange? Und dann war da noch der Unfall. Ob jemand gesehen hatte, wie sie mit ihrem Roller in den See gestürzt war? Chihiro verdrängte den aufflackernden egoistischen Anfall, der sie um ihr Gefährt trauern ließ, denn schließlich waren es ihre Eltern, die mehr Aufmerksamkeit verdienten. Sie würde einen Weg nach Hause finden müssen, sich eine sinnvolle Erklärung einfallen lassen, wenn sie nicht wieder beim Psychologen auf der Chaiselongue enden und durch jahrzehntelangem Hausarrest von der Außenwelt ferngehalten werden wollte.

Es ist nicht mehr weit.

Sie erkannte kaum etwas aus der Höhe, bis auf die Umrisse der Laubdächer jener dicht bewaldeten Hügel und Täler unter ihnen. Die Wolken hatten sich so dicht zusammengezogen, dass kaum ein Lichtstrahl seinen Weg hindurch fand, und es begann zu regnen. 

Halt dich gut fest, ich gehe jetzt runter, teilte er ihr mit und sie drückte sich wieder an ihn. Gleich darauf wurde ihr flau im Magen, als er so schnell abtauchte, dass sie fühlte, wie ihr Magen sich hob und sie am durchatmen hinderte. Es war ein Akt von nur wenigen Sekunden, bis der Drache seinen Flugwinkel änderte und sich wieder in Segelstellung brachte. Chihiro wimmerte, als das erdrückende Gefühl in ihrer Magengegend anhielt. Sie mahnte sich gedanklich, sich nicht zu übergeben - obwohl die Chancen dafür ziemlich gut standen. 

Dort drüben ist es. Wir haben es gleich geschafft.

Sie wollte nicht aufschauen. Sie spürte schon, wie es ihr den Hals hinaufkroch und sie musste einige Male schlucken, um den sauren Geschmack in ihrem Mund loszuwerden. Chihiro atmete nochmals tief durch und gab dem Befehl ihres Hirns nach, welches das erfassen wollte, wovon der Drache sprach. Sie hatten die grüne Hügellandschaft hinter sich gelassen und glitten über einen weitläufigen See, auf dessen unruhiger Oberfläche sich neben ihrem eigenen Abbild auch der dunkle Himmel spiegelte. Die prasselnden Regentropfen ließen das Wasser in Wellen erbeben. Wellen und Gischt ließen die Bilder verwischen und erinnerten Chihiro nur zu sehr daran, in welcher Verfassung sich ihr Magen befand...

"Haku", presste sie hervor und hielt sich die Hand vor den Mund, denn nun konnte sie für nichts mehr garantieren. Und schon einen kurzen Moment später setzte er behutsam zu einer Landung an. Chihiro verharrte einige Sekunden auf ihm, bis sie sich einigermaßen außer Gefahr fühlte, und schwang langsam ein Bein auf der andere Seite, um von seinem Hals zu rutschen. Sie atmete tief durch und blickte sich vorsichtig um. Eine Sache war ihr sofort klar: sie war schon einmal hier gewesen. Sie erkannte das Haus mit dem strohgedeckten Dach, das umzäunte Grundstück und das Tor, in dem eine Laterne hing. Chihiro war keineswegs erschrocken, als sie sich plötzlich in athletischer Eleganz von dem Holzbogen löste und auf und ab hüpfte - eine Laterne, deren Fuß die Form eines weißen Handschuhs besaß. Sie bewegte sich auf sie zu und stoppte vor Chihiro. Einer Eingebung folgend neigte sich leicht vor und beobachtete, wie die Laterne es ihr zur Begrüßung gleichtat. Sie machte kehrt und bedeutete ihnen, ihr den Weg hinauf zum Haus zu folgen.

"Ich bin schon einmal hier gewesen, nicht wahr?", fragte sie und bat um Bestätigung. Sie glaube Haku lächeln zu sehen, oder wenigstens ein sachtes Heben seiner Mundwinkel. Chihiro erwiderte es und wandte sich um, um der kleinen Laterne zu folgen. "Ist das dein Haus?"

Nein. Es gehört einer Freundin von dir, merkte er an.

"Meiner Freundin?", hakte sie interessiert nach. "Seltsam, dass ich mich an so Vieles nicht erinnern kann."

Du weißt, dass die Menschenwelt und unsere Welt hier in unterschiedlichen Dimensionen existieren. Und es besteht so etwas wie ein Gesetz, das eine Vermischung dieser Welten verbietet. Du kannst zwar zwischen ihnen hin- und herwandern - wenn du weißt, wie man die Barrieren überwinden kann - aber du kannst niemals die Grenze überschreiten, ohne einen Preis zu zahlen. Du kannst nichts mitnehmen; nichts, das auf der anderen Seite nicht ebenso existieren kann. Es ist ein Schutzmechanismus, der die eine Welt vor der anderen verbirgt.

Chihiro gab sich Mühe, seinen Worten auch zu folgen. Im Grunde besteht die eine Welt aus Magie, während sie in der anderen Welt nicht existieren kann. "Soll bedeuten, ich kann meine Kleidung von A nach B mitnehmen, aber.... keinen Zauberstab oder so was?"

Wieder dieses Lachen. Auf Zauberstäbe sind wir hier nicht angewiesen, Chihiro. So funktioniert unsere Magie nicht.

"Ich weiß, ich wollte ja nur -"

Ich verstehe, was du damit sagen willst. Und du hast schon Recht, gewissermaßen.

"Und mit Erinnerungen ist es genauso?"

Offensichtlich nicht ganz. Als du damals gingst, waren deine Erinnerungen ja nicht sofort wie ausgelöscht, oder? Sie haben sich mit der Zeit einfach verändert, sind in Teile auseinandergebrochen, haben sich neu zusammengesetzt und Details sind verblasst, nicht wahr?

"Ich glaube schon. Weißt du, ich hatte schon immer diese Träume. Keine Albträume, nein. Ich konnte mich nur nie an sie erinnern, sobald ich die Augen aufschlug, aber ich erinnere mich ganz genau an dieses Gefühl, das ich spürte. Und ich glaube, ich weiß jetzt, was für ein Gefühl es ist."

Ich hoffe, dir wurde davon nicht auch jedes Mal übel.

Chihiro lachte und spürte die Röte auf ihren Wangen. Sie fasste sich und sprach aus, was sie ihm sagen wollte: "Nein, das nicht. Ich hatte nur immer höllische Angst, weil ich nicht wusste, was los war." Sie suchte seinen smaragdgrünen Blick, als sie vor der offenen Haustür stehen blieben, durch die die Laterne eben gehopst war. "Aber es war wohl wirklich das Fliegen. Ich bin mit dir geflogen, Haku, und das jede Nacht. Du warst irgendwie dort... oder... bilde ich mir das nur ein?"




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