Entfesselung

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Im hintersten Teil ihres Gedächtnisses begannen sich Gedanken wie die Räder eines Uhrwerks zu drehen. Bruchstücke fügten sich wie ein Puzzle zusammen und ergaben endlich ein klares Bild - ein Bild, auf das Chihiro nun mit den Augen jenes Mädchens schauen konnte, welches diesen magischen Ort tatsächlich und wahrhaftig erlebt hatte. Sie erkannte die Hexe, die still vor ihr saß, erinnerte sich ihrer temperamentvollen Schwester und deren Badehaus, wohin Chihiro's erste Reise vor Jahren geführt hatte. Eine ungeheure Erleichterung durchflutete ihren gesamten Körper, ihren Geist, als die Angst der Ungewissheit nach und nach von ihr abfiel, während sich ihre Gedanken und Gefühle von neuem zu sortierten. 

"Befreiend, nicht wahr, meine Kleine?"

Chihiro überkam eine ungeheure Freude. Sie konnte kaum aufhören zu grinsen, als sie eilig auf Zenibas Seite des Tisches kam und die Hexe in eine Umarmung zog, welche nur einer Freundin gebührte. "Ich freu mich ja so, Sie wiederzusehen! Ich weiß es jetzt wieder, Zeniba. Wie Sie mir damals mit Haku helfen wollten und..." 

Haku.

"Haku", murmelte Chihiro, als auch dieser verworrene Teil ihrer Erinnerungen aufklarte wie eine stürmische See. Ihr Blick fand rasch wieder in die Gegenwart zurück; eine Gegenwart, in der ihr Freund nicht in bester Verfassung war - und das nicht, weil er mit von Magie beeinflussten Fesseln kämpfte. "Zeniba. Haku, er -"

Sie winkte ab. "Ich weiß, ich weiß. Haku bestand darauf, dass wir zuallererst diese Sache bereinigen. Aber nun ist er an der Reihe". Chihiro nickte eifrig und folgte der Zauberin, die sich erhob und gemäßigten Schrittes ihr Heim verließ. "Ich werde ihm helfen sich von den Fesseln zu befreien und seine Wunden versorgen, aber alles Andere liegt nicht bei mir."

Chihiro ahnte, was Zeniba damit zum Ausdruck bringen wollte, dennoch erschloss sich ihr nicht die volle Tragweite dieser Worte. Mit Haku stimmte etwas nicht, die Indizien reichten weit und waren zutiefst beunruhigend: Chihiro begriff nicht was genau sie da mit eigenen Augen geschehen sah und die Mutmaßungen der Klosterbrüder und Novizen waren alarmierend - selbst der Begriff der "Schwarzen Magie" war gefallen - und ein mystischer Schutzring bibberte vor Energie, sobald er in die Nähe des Drachen kam. Und nun gestand ihr eine überaus fähige Hexe, dass sie gegenüber dem, was immer es war, machtlos war. Dass sie nicht das Geringste tun konnte.

"Wo ist er hin?", sinnierte Zeniba und blieb vor ihrem Haus stehen. Ihr Blick schweifte in die Ferne, durch die Bäume des Waldes hindurch. Chihiro richtete ihre Aufmerksamkeit hingegen auf den Himmel, versuchte ihn in den Wolken auszumachen. "Er fliegt nicht", unterbrach Zeniba sie.

"Wie meinen Sie das?"

"Er kann nicht. Die Fesseln wurden so verhext, dass sie ihn genau davon abhalten sollen. Ich bin überhaupt erstaunt, dass er es mit dir zusammen hergeschafft hat", merkte sie an und hielt weiterhin Ausschau, "So froh ich darüber auch bin, aber das ist kein gutes Zeichen. Es ist weiter fortgeschritten, als ich erwartet habe."

Chihiro schluckte und ballte die Hände zu Fäusten. "Das klingt ja fast, als wäre er krank..."

"Gewissermaßen trifft das zu."

Sie schnaubte ungläubig und erwiderte:  "Was für eine Krankheit färbt einem Drachen die Schuppen schwarz? Welche Krankheit lässt alles Lebendige aus seinen Augen verschwinden, wenn er wütend oder verletzt ist?!", fragte sie und war nicht in der Lage, den leicht hysterischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen. "Er ist ein Drache, verflucht! Eigentlich sollte ihm nichts und niemand etwas anhaben können."

"Er ist dennoch ein sterbliches Wesen, Chihiro. Haku mag dank seines Talents und Jubaba's Anleitung ein ausgezeichneter Magier sein, aber ich versichere dir, das macht ihn längst nicht immun gegen etwas, womit auch die Mächtigsten unter uns zu kämpfen haben. Ich selbst bin dabei keine Ausnahme."

Chihiro wusste nichts darauf zu sagen. Sie haderte mit sich. Einerseits wollte sie endlich alle Karten dieses verwirrenden Spiels offen darlegen und war es leid, dass sich nur eine nach der anderen aufdeckte, andererseits fürchtete sie sich genau davor. Wer würde schon wissen, ob bei dem Ganzen noch etwas Positives auf sich warten ließ? Oder ob alles nur noch schlimmer werden würde...

"Da bist du ja", sprach Zeniba und begann auf unheilvolle Weise zu lächeln, als Haku aus den Schatten trat. "Sei unbesorgt, junger Drache; mein Haus ist bestens gegen Verfolger und böse Energien geschützt. Nichts uns niemand kann ohne meine Zustimmung die Schutz- und Abwehrschilde überwinden, die ich errichtet habe."

Haku schien sich damit nur schwer anzufreunden, was Chihiro deutlich an seinen langsamen Bewegungen, den wachsam prüfenden Augen und der Anspannung in seinen Muskeln sehen konnte. Offenbar galt sein absolutes Vertrauen nur sich selbst, wie Chihiro traurig feststellte. Auch wenn sie völlig überzeugt war, dass es derselbe Haku war wie damals, so hatte er sich doch verändert. Sie erinnerte sich an einen kindlichen Jungen mit lachenden Augen, der ihre Sorgen verstand und der ihr die größte Angst in der Fremde genommen hatte, indem er einfach ihre Hand genommen und mit ihr durch die Luft geschwebt war... Mit diesem sanftmütigen Jungen hatte ihr Gegenüber bislang nicht viel gemein.

"Lass mich das sehen", forderte Zeniba und ging auf Haku zu. Nach ein paar Augenblicken staunte sie nicht schlecht und klang fast beeindruckt, als sie feststellte: "Die Novizen können ja doch mehr, als ich ihnen zugetraut hätte. Für Gewöhnlich sind sie mit die schwächsten jungen Magier unserer Welt und stopfen ihren Kopf mit allem Wissen über Pflanzen und Kräuter."

Chihiro runzelte die Stirn und rieb sich die Arme, obwohl ihr nicht kalt war. "Auf Viele mag das ja zutreffen, aber unter ihnen sind auch Einige, die ich nicht unterschätzen würde. Manche haben auf mich eher den Eindruck eines Kriegers gemacht, nicht den eines Gärtners."

"Dabei legt Hora doch so viel Wert auf eine pazifistische Lebenseinstellung, wie merkwürdig."

Die Novizen des Klosters sind keine Krieger, bemerkte Haku schnaubend. Chihiro entging die unterschwellige Arroganz in seinen Worten dabei nicht im Geringsten. Sie stecken noch in den Kinderschuhen, was ihre Fähigkeiten und ihr Können betrifft.

"Und trotzdem haben sie dich erwischt, nicht wahr?" Sowie der Gedanke ausgesprochen war, wollte sich ein Teil von ihr ohrfeigen. So zeigte sie also ihre Dankbarkeit dafür, dass er ihretwegen diese Scherereien in Kauf genommen hatte? Wow.

Sie senkte den Kopf und schüttelte sich. Es brachte nichts, schon wieder Gedanken an Schuld und Nicht-Schuld zu verschwenden. "Also, wie befreien wir ihn von den Dingern?"

Zeniba zog eine Braue hoch und musterte die Fesseln genau: "Egal, wie viel Mühe sie sich damit gemacht haben, für eine erfahrene Zauberin ist es ein Kinderspiel. Das haben wir gleich!"

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt