Zuflucht

381 33 2
                                    

Chihiro überkam ein herrliches Gefühl der Geborgenheit. Schon als sie über die Schwelle trat, brach es über sie herein, noch ehe sie sich wirklich umgesehen hatte und staunte, wie bekannt ihr die Umgebung war. Sie staunte über die Einfachheit dieses Heims, in dem sie sich wie in das schlichte Landleben vergangener Zeiten zurückversetzt fühlte. Die Kochstelle versorgte das Haus mit angenehmer Hitze; ein in die gemauerte Wand eingelassener Kamin, über welchem sich, auf einer langen Holzleiste stehend, hübsch gemusterte Zierteller aufreihten. Entlang der Wand zur anderen Seite zog sich ein Regal, beräumt mit dekorativen Döschen und kleinen Behältnissen, die ein Gewürzregal oder Ähnliches vermuten ließen. Zur anderen Raumseite hin entdeckte sie eine Nische, die einen räumlichen Teilbereich schaffte, in dem sich ein großer Futon befand. Chihiro schritt voran über die Dielen und ließ auch den Rest auf sich wirken: ein langer Esstisch mit zwei hölzernen Sitzbänken bildete das Zentrum des Raums, deren hohe und von Balken gestützte Decke sich wölbte. An Seilen befestigte Sprossen hingen von ihr herab, um als Aufhängung für diverse Stoffe, Tücher und auch einige Kleidungsstücke herzuhalten.

Chihiro überlegte nicht lange, als sie darauf zuging und sich einen hellgrünen Pullover und eine Hose schnappte. Beides war ihr etwas zu groß, doch es war allemal praktischer und vor allem wärmer als das kalte, durchnässte Wickelgewand, das an ihr klebte und sie frieren ließ. Aber der sittige Anstand, den sie innehatte, brachte sie dazu sich nochmals umzusehen, ob nicht doch jemand anwesend war (abgesehen von der kleinen Laterne, die sich schon ermutigend an ihrer Seite platziert hatte und ihr leuchtete). Das Haus schien bewohnt, nur war der Bewohner anscheinend fort.

Hier sind wir fürs Erste ungestört. Die Sachen hat Zeniba für dich bereitgelegt, du kannst also ganz beruhigt sein und dich wie Zuhause fühlen.

Sie runzelte die Stirn, denn bei der Erwähnung dieses Namens meldete sich ganz zaghaft eine Erinnerung... Zeniba. Ja, das kam ihr bekannt vor.

Sie wird uns hier treffen, sobald sie sich um ein paar Angelegenheiten gekümmert hat, erklärte Haku und schlängelte sich durch die Tür hinein, die er mit einem Zucken seines Schweifs dann ins Schloss fallen ließ.

Chihiro nickte und huschte hinter die aufgehängten Stoffbahnen, um schnell ungesehen aus den nassen Sachen herauszukommen. Sie zerrte sich den Pullover über den Kopf und schlüpfte in die Hose, nachdem das safrangelbe Gewand mit einem schmatzenden Geräusch zu Boden fiel. Rasch hob sie es auf und schnappte sich eine Art Blechwanne, um es darüber auszuwringen, ehe sie es zum Trocknen aufhängte und mit dem Ärmel über die nass gewordenen Dielen wischte. Chihiro registrierte währenddessen, wie der Drache sich auf der anderen Seite des Raums um den Tisch herum bewegte und sich vor dem Kamin auf den Bodendielen niederließ. Schlagartig fiel ihr Blick wieder auf seine Fesseln, die sie in ihrer Flugangst vorhin völlig ausgeblendet hatte.

"Hast du schlimme Schmerzen?", fragte sie besorgt und trat nahe an ihn heran, um die dunklen Blutergüsse unter den Schellen an Hals und Hinterbein zu begutachten. "Die Dinger müssen runter!"

Das geht nicht. Sie stecken voller Magie und ich kann sie nicht selbst lösen.

Sie wusste, die Frage war so dumm wie überflüssig, aber sie konnte kaum mitansehen, was die Schellen mit ihm anstellten. "Kann ich nicht irgendwas tun?"

Die lassen sich nur durch Magie öffnen, Chihiro. Keine Sorge, das halte ich schon aus, bis Zeniba hier ist.

Sie presste frustriert die Kiefer aufeinander und nahm es hin, auch wenn ihr der Gedanke nicht gefiel, dass er den Schmerz solange ertragen musste. Sie hoffte nur, nicht zu lange. "Wann wird sie hier sein?"

Ich vermute, morgen. Bis dahin ruhen wir uns ein wenig aus. Es war ein anstrengender Tag - für uns beide.

Chihiro seufzte und betrachtete Haku, der mit seinem ausgestreckten, schlangenartigen Leib den Platz von der Tür bis zur Feuerstelle einnahm. Ein Gedanke kam ihr dabei, doch sie wusste wieder einmal nicht sicher, ob er der Realität einer Erinnerung oder einer Vorstellung ihrer Träume entsprang. "Kannst du dich nicht einfach verwandeln? Du bist nicht immer nur ein Drache... richtig?"

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt