Zauberland

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Völlig vor den Kopf gestoßen stand sie da. "Das verstehe ich nicht", log sie. Sie log, ohne es zu begreifen.

"Chihiro." Hora deutete an, weiter durch den Garten gehen zu wollen, und schenkte jedem Blütenstrauch, jedem Gewächs einen wachsam prüfenden Blick. Stocksteif stand Chihiro da, verstand nicht, was seine Worte zu bedeuten hatten. "Du bist schon einmal hier gewesen. Erinnerst du dich?", fragte er und bückte sich nach einem Busch, dessen Blattwerk puterrot war. 

"Das kann doch nicht...", murmelte sie mit belegter Stimme. Bilder drängten sich ihr zaghaft ins Gedächtnis, als betrachtete sie sie durch eine milchige Membran. Bilder, die ihr an den Tempeln bereits erschienen waren und ihr Kopfzerbrechen bereiteten. Es war ein Puzzle, dass sich nicht gänzlich zusammensetzen ließ.

Seltsame Gestalten. Masken, die augenscheinlich haltlos in der Luft schwebten, Frauen in geblümten Kimonos, gekleidete Frösche und andere tierähnliche Wesen, groß wie Menschen. 

Ein großes Gebäude am Ende einer roten Brücke, unter der Zugschienen verliefen. Ein Ort der Entspannung... für die Gottheiten dieser Welt.

"Wie kann das sein", sprach sie tonlos, mehr zu sich selbst als das irgendjemand gemeint war. Sie wusste nicht wie es geschah, aber sie saß auf einem Stuhl, den Blick starr zu Boden gerichtet. "Ich war schon einmal hier, ja." Sie wusste, dass es stimmte, auch wenn sie es nicht begreifen konnte. Das Gefühl der Vertrautheit glich einem schleichenden Raubtier im Unterholz, inmitten des Dschungels ihres Herzens. Ein Herz, das Etliches so tief in sich begraben hatte, dass es ihr nur wie eine blasse Erinnerung erschien, gar wie ein Traum.

Ein Schlafraum mit hölzernem Balkon. Der Ausblick auf ein strahlendes Meer, über dem eigenartige Vögel kreisten. Vögel... eine weißes schlangenähnliches Wesen, das durch die Luft wirbelte.

"Chihiro, beruhige dich. Es ist alles gut."

Grüne Augen, ein Blick, der sie tief im Inneren erreichte. Eine sanfte Stimme. "Ich bin dein Freund, Chihiro."

"Du bist aus einem Grund hier", wiederholte Hora und nahm ihre Hand, als wollte er sie im Hier und Jetzt festhalten, statt sie der nun erwachenden Erinnerung zu überlassen. "Du wirst ihn noch herausfinden müssen."

"Aber..." Sie fand keine Worte, die beschreiben konnten was in ihr vorging. Überrumpelt wie sie war, wusste sie es selbst nicht zu benennen. "Ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin! Ich erinnere mich an das Badehaus, den Marktplatz, das weinende Haus... aber ein Kloster? Ich erinnere mich nicht an ein Kloster."

"Das Badehaus, natürlich. Und das weinende Haus? Was ist das?", wollte er wissen.

Chihiro schüttelte abwegig den Kopf. Sie entsann sich eines scheinbar endlosen Tunnels, der alles Licht in sich verschluckte. Sie hatte sich an den Arm ihrer Mutter geklammert, hatte im Grunde nicht einmal weitergehen wollen. Und dann war da dieses Haus, das ihr solch Unbehagen bereitet hatte. "Ich weiß, dass ich es so genannt habe. Erst dieser lange Tunnel und dann sind wir in ein Gebäude gelangt. Es war so unheimlich, wann immer der Wind hineinfuhr. Aber ob es der Wind war? Es klang wie ein Weinen."

"Ich glaube, ich verstehe." Hora ging mit ihr zurück an den gedeckten Tisch. "Der Tunnel, den du erwähnt hast, wird ein Portal gewesen sein. Ein Ort, existent auf beiden Seiten, der einen Übergang zwischen den Welten ermöglicht. Und auch diesmal bist du durch ein Portal hierher gelangt."

Sie dachte nach, dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. "Der See!" Es ergab Sinn. Die Umgebung, als sie aufgetaucht war, war eine ganz andere gewesen. Statt der Wiese und der nahen Straße befand sie sich in einem Sumpfgebiet. Ähnlich dem Tunnel, der sie vom Wald in das weinende Haus geführt hatte.

"Offenbar ja", bestätigte Hora. "Es gibt etliche bestehende Portale - unmöglich, sie alle zu bestimmen. Es gibt sie in vielen Formen, weißt du? Keines gleicht dem anderen und sie alle erfüllen mit ihrer Funktion einen bestimmten Zweck. Doch der See ist ein verschlossener Übergang. Ein Privatweg, wenn du so willst. Du hättest eigentlich gar nicht hindurchkommen dürfen."

Chihiro ließ die Geschehnisse am See Revue passieren, versuchte dem Angstgefühl und dem Schrecken nicht nachzugeben, die sich wieder einen Weg in ihren Verstand bahnten. Sie schloss sie aus - stieß im Geiste diese Tür zu - und konzentrierte sich. "Ich stürzte hinein", konstruierte sie und rief sich zurück, was geschehen war. "Ich wollte nach oben schwimmen, aber es ging nicht. Es war, als würde ich hinabgezogen werden und mein Körper wurde so schwer, dass ich mich nach einer Weile kaum rühren konnte. Ich muss lange unter Wasser gewesen sein... Wieso nur bin ich nicht ertrunken?" Und dann fiel ihr Blick auf den Ring. Natürlich. "Der Talisman", beantwortete sie selbst. "Aber ich wollte doch nicht absichtlich hier sein. Ich kann mich ja selbst jetzt kaum erinnern, was - "

"Hora!"

Chihiro schaute auf und sah Teban, der auf einmal zwischen den Hochbeeten auftauchte. Chihiro hatte sein Verschwinden vorhin gar nicht bemerkt. Er atmete schwer, als sei er gerannt. "Er ist hier gewesen. Er hat einen Großteil der östlichen Halle verwüstet, ehe wir in vertreiben konnten."

"Ich komme sofort. Sind Yama und Shuta verständigt?", verlangte Hora zu wissen und erhob sich. Sein Gesichtsausdruck nahm düstere, besorgte Züge an. Etwas stimmte ganz und gar nicht.

Teban nickte und in seinem Gesicht stand die Anspannung geschrieben."Sie verfolgen die Spuren bereits."

Chihiro runzelte die Stirn und fragte: "Verfolgen? Wen?"

Sie wollte es nicht falsch auslegen, doch sie könnte schwören Teban tatsächlich lächeln zu sehen, als er ihr in grimmigem Tonfall antwortete: "Den Drachen."

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt