Und spielst du mit Göttern, so spielst du mit dem Feuer (2)

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Wenn er nicht dort oben ist, weiß ich auch nicht, dachte sie und versuchte, indem sie von der Wand zurücktrat und sich unter die Gäste mischte, dem bohrenden Blick des Löwenwesens diskret zu entgehen. Obwohl es wie versteinert an Ort und Stelle saß, ließ es sie nicht eine Sekunde aus seinen goldgelben Augen; seine katzenhaften Pupillen folgten Chihiro unentwegt zwischen zusammengekniffenen Lidern (und auch der Blick seines Löwenzwillings richtete sich auf sie). Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, das im Begriff war etwas Verbotenes zu tun und dabei von Erwachsenen beobachtet wurde.

Die Musik schwang um, spielte in einem rasanten Tempo, das in der Masse Begeisterung auslöste. Als die Gäste sich um sie drängten und durcheinanderliefen, als müssten sie ganz plötzlich irgendwo hin, bereute Chihiro ihre Entscheidung. Statt sich geschmeidig zwischen den Gästen zu bewegen, glich das ganze eher einem eiskalten Hindernislauf: Sie wich einem Wesen aus, das einem übergroßen, gehörnten Puma mit eisblauem Fell nicht unähnlich war, und stolperte unabsichtlich tiefer in die Menge hinein, bis sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte als die Frage, wie zur Hölle sie dort wieder herauskam?! Egal wohin sie blickte, sie erspähte nur herumhuschende Gestalten mit seltsamen Fratzen: Eine in einen bunt gemusterten Umhang gehüllte Kreatur mit wuchtigen Keulen statt Armen am Rumpf, dann eine hochgewachsene, sehr schlanke, zweiköpfige Frauengestalt mit bronzener Haut. Je ein insektenartiges Auge war alles, was sich in ihren buntgeschminkten Gesichtern - eines rot bemalt, das andere cremeweis - befand. Chihiro duckte sich gerade rechtzeitig, um dem über ihren Kopf fliegenden Iltis auszuweichen, der mehrere Loopings in der Luft beschrieb und sich zu zwei weiteren seiner Art gesellte, die scheinbar eine Art Fangspiel mang der Säulen austrugen. Chihiro strauchelte mit den Absätzen ihrer Sandalen, als sie von irgendjemandem - oder irgendetwas - angestoßen wurde, und fing sich an einer der Säulen ab.

Können die denn nicht ein bisschen aufpassen?, dachte sie aufgebracht und trat ganz nah an die Säule, die sie, im aufgeregten Gewimmel der Gäste, wie ein Poller vor dem reißenden Sog einer stürmischen See bewahrte. Sie behielt die Empore im Auge, um sich nicht zu weit davon zu entfernen und versuchte einen Weg auszumachen, der sie dort hinauf führte. Chihiro entdeckte unmittelbar keine Treppe, keinen Lift, keine Leiter oder sonstiges. Der Flur, der sie in den Saal geführt hatte, schien der einzige Zugang zu dieser Räumlichkeit zu sein, sodass sie nirgends einen Anhaltspunkt dafür fand, dass es ein Treppenhaus oder etwas derartiges gab.

Chihiro löste sich widerstrebend von der Säule, um sich einen genaueren Überblick zu verschaffen, aber die Musik, die nun angestimmt wurde, ließ sie abrupt innehalten. Auch alle anderen Anwesenden im Saal verharrten und es hatte den Anschein, als hätten sie sich in Reihen eingefunden. Und das hatten sie wohl, denn als eine Koto sanft anstimmte, aber rasch in einen schnellen, pulsierenden Rhythmus verfiel, der die Klänge nicht weich, sondern hart wirken ließ, begannen sie alle sich zu bewegen. Wie gebannt besah sich Chihiro eines Wesens, das recht große Ähnlichkeit mit dem griechisch mythologischen Stiermenschen besaß, gekleidet nur in ein schwarzes Hakama - ein faltiger Hosenrock, der von einem breiten, gemusterten Band um seine Körpermitte gehalten wurde. Jede Bewegung, die der Stier im Rhythmus der Musik vollführte, kündete von einem starken, beherrschten Körper. Trommeln lebten auf und mit jedem festen Schlag ging ein intensiver Ruck durch Chihiro's erregten Körper. Ihre Fußknöchel kribbelten, als die gesamte Masse der Gäste sich im Takt bewegte, sich in Formation drehte und Figuren vollführte, die Chihiro noch nie gesehen hatte - eben weil sie einem Menschen schlicht nicht möglich wären. Körper bogen sich, schwebten umeinander im Farbwirbel der bunten Erscheinungen, Gliedmaßen verdrehten sich in unnatürlichen Winkeln. Selbst die Iltisse, die sich noch immer in der Luft hielten, stimmten in den Tanz mit ein und vollführten rhythmische, miteinander verwobene Schraubenbewegungen.

Chihiro's Herz hämmerte mit dem Rhythmus der Trommeln und sie kam nicht gegen den übermächtigen Drang an, der nun in ihr auflebte. Wie aus der Ferne nahm sie wahr, dass sie sich in die Tanzenden einfügte, als diese sich in einer einzigen eleganten Bewegung zu Paaren zusammenfanden, sich umeinander drehten und wieder auseinanderstoben, um dasselbe mit einem neuen Partner zu wiederholen. Chihiro fand sich vor dem dreischwänzigen Fuchsgott ein, der sie mit seinen unheilvollen Augen fixierte. Jede Iris war gespalten, besaß zwei Farben; der obere Halbkreis der Regenbogenhaut war nachtblau, während der untere wolkenverhangen, gar rauchig wirkte. Der Kitsune tanzte in fließenden, kreisenden Schritten um sie herum, berührte sie nicht, und obwohl sein Blick den ihren kreuzte, schien er sie nicht wirklich vor sich zu sehen, so als wären seine Gedanken an einem viel weiter entfernten Ort.

Das Kitzeln an ihren Füßen wurde stärker und brachte sie dazu hinabzusehen als ihr Tanzpartner sich in eine Drehung fallen ließ, um die Position zu wechseln, doch noch ehe Chihiro richtig erfassen konnte, was sie sah, spürte sie eine Hand, die ihr hauchzart über Taille und Rücken strich. Trotz der Leichtigkeit der Berührung fühlte Chihiro sich regelrecht elektrisiert. Sie umtanzte einen hochgewachsenen Gott, dessen Körper kaum mehr als ein kegelförmiger weißer Umhang war und dessen Gesicht in Form einer verzierten, hölzernen Maske über seinem übrigen Leib in der Luft schwebte.

Die Trommelschläge der Taiko - mal leise und die Zitherklänge unterstreichend, mal brechend laut, wie eine Aufforderung an die Tanzenden - gingen Chihiro ins Blut über und erreichten ihren Puls, brachten ihn dazu, unkontrolliert mit der Musik mitzugehen, sodass Chihiro die Sinne schwirrten. Sie schmeckte Salz auf ihren Lippen und erkannte, dass ihre Augen vor Überwältigung tränten, während in ihrer Brust ein Feuerwerk tobte. Ein eigenartiges Hochgefühl erfasste sie - ein gefährlich vertrautes...

Nein, nicht... , hallte es kleinlaut durch ihr Bewusstsein, kaum mehr als ein vergehendes Echo; der letzte schwache Versuch ihres Verstandes, an die Vernunft zu appellieren.

Schlagartig war das berauschende Gefühl wie weggeblasen, so als hätte man das Licht in einem schwarzen Raum angeschaltet oder jemandem mit einem Fingerschnippen aus einer Trance gerissen. Die Verwirrung, die sie empfand, wurde nur noch verstärk, als sich der Nebel vor ihren Augen lichtete: Dutzende Augenpaare schienen auf sie gerichtet, dutzende Körper wirbelte um sie herum und dutzende Hände, Hufe, Fühler, Krallen, Tentakel streckten sich nach ihr aus, berührten sie wie beiläufig und wurden sofort durch neue Hände abgelöst (Chihiro kam sich vor wie ein Stück Brot, das man in eine Ansammlung von Verhungernden geworfen hatte). Sie versuchte sich klein zu machen, drehte sich einmal um die eigene Achse, um nach einem Fluchtweg zu suchen, aber erfolglos. Sie wollte den Griffeln entkommen, die sich nach ihr reckten, doch wann immer sie von einem wegstrauchelte, spürte sie schon den nächsten. Die Götter umkreisten sie in ihrem Tanz, ließen sich nicht davon abhalten, Chihiro bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzufassen.

"Hört auf", kam es nur zitternd über ihre Lippen, denn ihre Stimme war bleischwer, als könnte sie nicht die Stärke aufbringen, sie zu erheben. "Finger weg!"

Wieder strich etwas über ihren Rücken, und dann war ihre Stola verschwunden. Chihiro kreischte auf, als sie voller Unbehagen ein Tapsen, ein Zischeln auf ihren nackten Armen spürte, als würde irgendetwas auf ihr krabbeln. Sie zog abwehrend die Schultern hoch und schlang sich die Arme um den Leib, wollte die Augen schließen, als die tanzenden Gestalten sich immer schneller um sie herum drehten und ein Schwindelgefühl in Chihiro auslösten.

"Das genügt", forderten Stimmen, so grollend tief und klirrend hell, dass selbst Chihiro aufhorchte und eine Gänsehaut bekam; ein Gefühl wie tausend Nadeln, die überall in ihre Haut stachen. "Gebt den Menschen jetzt frei!"

Augenblicklich gehorchten sämtliche Hände. Die um sie Versammelten hörten auf zu tanzen, traten einen Schritt von ihr ab und standen dabei so eng beieinander, dass sie eine Mauer um Chihiro herum bildeten.  Die Musik war verstummt und es war so still, dass Chihiro's hämmernder Herzschlag ihr so intensiv in den Ohren dröhnte, wie sie zuvor die Trommeln vernommen hatte. Chihiro sah über die vor ihr stehenden Götter hinweg; Gestalten wichen auseinander, sodass sich eine Schneise in der Menge öffnete. Als auch die letzten Gäste vor ihr auseinanderstoben, konnte Chihiro den Blick ungehindert auf zwei Löwenwesen richten, die Schulter an Schulter nebeneinander herliefen, sich zeitgleich, sehr präzise und bedacht bewegten, sodass Chihiro fast den Eindruck gewann, als handelte es sich nur um einen Löwen, der an einer Spiegelwand vorüber ging. Doch so war es nicht. Sie bildeten eine perfekte Einheit, und es gab nur einen Punkt, in dem die beiden sich in ihrer Erscheinung unterschieden: Der eine Löwe hielt sein Maul geschlossen, während das des anderen permanent offenstand. Und als sie von neuem die Stimmen zugleich erhoben, regten sich ihre Mäuler dabei kein Stück: "Ein jeder Gast unterstehst der Sicherheit des Hauses", mahnten sie alle Anwesenden, "auf dass ihr es nicht vergesst! Euer Reigen ist hiermit beendet, denn auch dieser Mensch ist ein Gast."

Die Totenstille wurde von gewisperten Worten durchbrochen, von denen Chihiro allerdings kein einziges verstand, weil etliche Sprachen durcheinandergeworfen wurden. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es sich dabei um menschliche Sprachen handelte.

"Komm jetzt, Mensch", forderten die Löwenwesen und hefteten ihre Blicke auf sie. "Du wirst bereits erwartet."
 

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt