Weis

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Sie rappelte sich auf und stolperte die letzten Meter zur Haustür. Fast war sie da, nur ein paar letzte Schritte noch. Chihiro fluchte, als sie auf dem vom Morgentau feuchten Gras ins Rutschen geriet, sodass sie schwungvoll gegen die Tür krachte, statt wie geplant nach dem Knauf zu greifen. Sowie sie wieder auf die Beine kam wurde sie von einem furchtbaren Gefühl erfasst und sie warf sich zur Seite, noch bevor sie den Drachen hinter sich überhaupt kommen sah. Haku schlug mit der Wucht seines Körpers durch die Tür, dass sie in etliche Teile zerbarst und er mit der Hälfte seines langen Leibes ins Haus preschte. Seine toten Augen ließen Chihiro nicht los und er nahm sogleich die Verfolgung auf, als sie den ersten Schock verdaute und rasch Abstand von ihm suchte. Sie lief los.

"Hast du dich tatsächlich so wenig unter Kontrolle", wetterte Zeniba, in deren Stimme ihr Zorn seine Wirkung zeigte. Chihiro drehte sich nicht nach ihr um; Haku baute sich zu voller Größe auf, nachdem er sich durch den kaum mehr zu erkennenden Hauseingang geschlängelt hatte. Chihiro ahnte, was als nächstes geschehen würde, und der Gedanke verursachte in ihr eine mittlerweile allzu vertraute Angst. Eine Angst, die sie zum Teufel schicken wollte. Sie war wütend auf sich selbst, dass sie mit dem Bild, welches Haku ihr bot, noch immer nicht zurechtkam. Sie hasste es, dass sie sich ihm nicht entgegenstellen konnte, wo sie in ihrem - zugegeben recht kurzen - Leben ja bereits andere Situationen mit schwierigen Menschen gemeistert hatte. Aber wie sollte sie einem Drachen begegnen, der offenbar nicht mehr Herr seiner Sinne war? Der sie nicht mehr ansah wie einen Menschen, nicht wie einen Freund, sondern wie sein nächstes Opfer. 

Chihiro begann zu rennen, wie sie selten gerannt war, und stürzte in den Wald hinein. Ihre Wut war nur gering abgeschwächt durch den Schreck, als Haku sich veränderte. Sie war sauer - definitiv richtig sauer! Und die Tatsache, dass sie in dem Moment, in dem sie sich Haku gegenüber behaupten wollte, wieder zum scheinbar unterlegenen Wesen wurde, das seinen Fluchtreflexen in Gefahrensituationen nachgab, machte es noch schlimmer. All die Fragen, die ihren Kopf beherrschten, erschwerten ihr den Versuch, klar zu denken. Griff Haku sie wirklich ernsthaft an? Wie weit würde er gehen, wenn er lange in diesem Zustand blieb? Würde er sie verletzen, wenn sie nicht schnell genug wäre, ihm zu entkommen? 

Haku war nicht Haku, wenn die Merkmale der Bestie - so nannte Chihiro diese Seite an ihm inzwischen - sichtbar für jedermann waren. Nur fragte sie sich, ob wirklich diese Anzeichen ausschlaggebend für sein animalisches Verhalten waren oder ob es sich damit wie eine Psychose verhielt. Etwas, das im Grunde die ganze Zeit über im Stillen vorhanden war und gelegentlich zu Ausbrüchen führte... Sie hoffte es jedenfalls nicht.

"Komm zu dir!", rief sie über die Schulter, denn sie wusste wie nah er ihr war, als sie über Baumstämme hechtete und sich einen Weg durch die dicht stehenden Bäume bahnte, in denen Haku es schwerer haben würde ihr nachzukommen. Sie brauchte eine Strategie, wenn sie ihm davonlaufen wollte, denn zweifelsohne würde er nicht mehr Energie aufwenden müssen als jemand, der eine Schnecke zertreten wollte, um Chihiro zu erwischen. Seine Drachengestalt erlaubte ihm zwar einige Freiheiten und Vorteile - wie das Fliegen, die Wendigkeit seines schnittigen aber kraftvollen Körpers - aber genauso musste er mit Schwächen leben, dachte sie sich. Seine Größe. Das war alles, was Chihiro sich jetzt irgendwie zunutze machen konnte: Haku kam ihr kaum nach, denn er brachte es nicht fertig, sich so zwischen den Bäumen zu bewegen, wie Chihiro es mit ihrem zierlichen, vergleichsweise drahtigen Körper vermochte. Sein Flugtalent aber machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie sah nicht, wie er durch die Decke aus Laub und Geäst brach, hörte aber das Knacken und Rascheln und schließlich die Stille, welche es ihr bestätigte. Rasch schlug sie eine andere Richtung ein, sobald er nicht mehr hinter ihr war. Die Baumkronen würden ihr gute Deckung geben und ihr vielleicht einen Vorsprung einräumen.

Nach ereignislosen Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, erlaubte Chihiro sich eine Pause. Sie konnte nicht mehr. Ihre Lunge schmerzte, ein Stechen machte sich in ihrer Brust breit und erschwerte ihr das Atmen. Sie blieb nicht stehen, wurde aber langsamer und verfiel in ein Schrittempo, wie es jemand an den Tag legte, der auf dem Arbeitsweg spät dran war. Sie ging einfach immer weiter, konnte nur vermuten, dass sie sich noch in der Nähe von Zenibas Haus aufhielt. Zumindest kam es ihr so vor.

Es vergingen Stunden. Die Erschöpfung war irgendwann am späten Nachmittag über sie hereingebrochen und im warmen Licht einer sinkenden Sonne, das durch das Geäst der Bäume brach, ließ Chihiro sich auf einem kleinen Hügel im Wald nieder. Sie streckte Arme und Beine von sich und atmete tief durch, als könnte sie dadurch alles Schlimme abschütteln, was ihr Sorgen bereitete. Sie versank förmlich darin und wurde so ruhig, dass ihr die Augen zufielen.


(Stunden später)

Etwas weckte sie.

Ein Kitzeln? 

Ein Kribbeln?

Unerbittlich tänzelte es auf ihrer Haut, direkt an ihrem Finger, und sie spürte es bis auf den Knochen.

Ihr Ring, der unerbittlich pulsierte wie ein von Blut durchflossenes Lebewesen.

Ganz schlaftrunken konnte Chihiro nicht erahnen was dies zu bedeuten hatte. Ihre Gedanken, die an dem schönen Traum festhielten, der sie das Badehaus und ihre alten Freunde hatte wiedersehen lassen, schweiften ab. Das lautstarke Brechen von Zweigen und Ästen raubte ihr die schönen Bilder, als der weißäugige Drache, nah über dem Erdboden fliegend, auf sie zukam. Einem Reflex folgend riss die Arme hoch und drehte sich von ihm weg, als sie sich Haku's bewusst wurde. Tränen rannen ihr übers Gesicht, hingerissen von dem Gefühl, das dieser Traum ihr beschert hatte und welches ihr nun grausam genommen wurde durch den Anblick des Monstrums, das ihren Freund in seinem Inneren hatte verschwinden lassen.

Bitte, dachte sie, völlig verstört und wartend auf den Schlag seines Schweifs, den Hieb seiner Klauen oder seinen Biss. Nichts dergleichen geschah. Es vergingen Sekunden, die sich für Chihiro wie die furchtbarsten Minuten ihres Lebens anfühlten. Leise hörte sie sich selbst schluchzen. War er noch da? Träumte sie womöglich?

Langsam drehte sie den Kopf und riskierte einen Blick, presste die Lippen zusammen, um sie am Zittern zu hindern, und hielt den Atem an. Er war nicht fort.

Direkt vor sich, nur einen halben Meter entfernt, fand sie einen Drachen, der zu Boden ging. Eben flog er noch bedrohlich auf sie zu, als wollte er sie mitreißen in seiner aggressiven Raserei, jetzt aber landete er mit einer solch bedachten Sanftheit, als würde man ein Kind streicheln.  Seine langgliedrigen Beine beugten sich, als würden Gewichte ihn nach unten ziehen. Seiner Kehle entrann ein tiefes, kaum hörbares Brummen. Ein beinahe klagender Laut, bei dem sich Chirhiro's Herz zusammenzog, und sie blickte auf ihre Hand. Der Stein ihres Rings leuchtete in einem herrlich hellen Pastellblau. Eben dieses Leuchten schien Haku zu ergreifen, denn es umgab ihn und hüllte ihn ein in eine Blase aus Licht. Chihiro sah zu, wie sein ganzer Körper darin zur Ruhe kam, wie sein wild stoßender Atem einen gleichmäßigen Rhythmus fand und seine Glieder sich entspannten, bis sich selbst das gesträubte, grüne Fell ruhig auf seinem Rücken bettete. Seine Augen waren geschlossen.

Chihiro wusste nicht, was sie nun unternehmen sollte. Er war so nah, dass sie bloß die zittrige Hand nach ihm hätte ausstrecken müssen. Sie tat es nicht. Fürchtete sich zu sehr, dass er aufwachen und ihr erneut das Biest begegnen würde...

Sie rührte sich keinen Millimeter und betrachtete ihn, sah zu, wie sich der blaue Schein nah um ihn legte, an seinen Körper angepasst wie eine zweite Haut. Gleißend hell, sodass Chihiro fast den Blick abwenden wollte, bis sie binnen eines kurzen Augenblicks erkannte, was vor sich ging. Der blaue Schein durchdrang den Drachen, tauchte in ihn ein und füllte ihn aus bis in jede Schuppe, jede Klaue, jedes Haar. Chihiro war wie gefesselt und konnte nicht anders, rutschte näher an ihn heran. Sie sah es. Sah, wie Schwarz zu Grau und Grau zu Weis wurde, bis das Schuppenkleid des Drachen wieder prachtvoll erstrahlte. Es währte jedoch nur für Bruchteilte einer einzigen Sekunde, dann zerbarst das Bild und Chihiro erschrak, als plötzlich Schuppen durch die Luft wirbelten. Als zöge man den Auslöser einer Konfettikanone und sähe sich in einem bunten Regen. Sie wurden fortgetragen vom Wind und was zurückblieb, raubte Chihiro endgültig den Atem. Alles in ihr war zum Bersten gespannt, ihre Finger hatten sich in den moosbewachsenen Waldboden gegraben und kniffen in die Erde. Sie verharrte ganz still, die Augen weit geöffnet vor Unglauben, Staunen und Hoffnung.

Haar. Grün schimmernd. Schulterlang.

Locker fallend weiße Ärmel, aus denen feingliedrige Hände mit rauen Fingerknöcheln ragten.

Ein schlanker, ausgestreckter Leib, mündend in langen, starken Beinen, von dunkelgrünem Stoff bedeckt. Barfuß.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt