Blaue Rosen und Jasmin

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Chihiro wäre am liebsten gar nicht mehr aus der Wanne gestiegen. Nicht, weil sie sich beim Baden aufhalten wollte, sondern vielmehr um dem jungen Mönch (Schrägstrich Klosterbruder oder wie auch immer) nicht noch einmal zu begegnen. Er hatte sie ins Nichts schreien hören, hatte ihre Arme bluten und ihren Körper nackt gesehen. Letzteres wohl nur beinahe. Würden ihr nicht gerade andere Angelegenheiten das Leben ruinieren, hätte sie sich vermutlich über genau diesen Fakt am meisten gesorgt. 

Sie schlüpfte in eine Art Wickelkleid aus dem safrangelben Stoff, aus dem auch die Kutten der Mönche gewebt waren. Es wurde von einem geflochtenen Taillengürtel zugehalten und reichte ihr bis zu den Knöcheln hinab. Das Haar band sie sich zu einem Pferdeschwanz zusammen, bevor sie die nur angelehnte Tür gerade weit genug zur Seite schob, um hindurch zu schlüpfen. Am Fuß des Türrahmens stand ein Tablett, auf dem man kunstvoll Essen angerichtet hatte. In schlichten Schalen bot man Reis, gebratenen Fisch und Suppe auf. Violette und orangefarbene Blüten waren darum drapiert worden und verliehen der Einfachheit eine wohlwollende, freundliche Note. Chihiro hatte kaum bemerkt, dass sie seit langem nichts zu sich genommen hatte, doch in diesem Moment knurrte ihr der Magen. Sie leerte die Schalen und pflückte sich den Reis vom Kleid, der in ihrer Hast sein eigentliches Ziel verfehlt hatte.

"Komm jetzt"

Vor Schreck fuhr sie herum und hätte fast das Tablett fallen lassen. Der junge Mönch lehnte nur wenige Meter den Gang hinunter an der Wand gegenüber eines großen Fensters, durch welches das Licht auf ihn fiel wie ein Scheinwerfer sein Antlitz zum Strahlen brachte. Chihiro wollte nicht anmaßend sein und behaupten, er hätte sich mit Absicht so zur Schau gestellt. Seine Präsenz hatte etwas Raubtierhaftes. Es war, als würde man einem Jäger gegenüberstehen... und dabei selbst die Beute sein. Chihiro konnte sich gut vorstellen, dass er, obwohl sein Blick scheinbar starr auf die Außenwelt jenseits des Fensters gerichtet war, sehr wohl jede ihrer Bewegungen wahrnahm und auch ihr Unbehagen spürte.

Chihiro wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, nahm das Geschirr - sie wollte es dort nicht so stehen lassen - und kam der Aufforderung nach. Ihre Wangen glühten und sie war erleichtert, dass der Mönch sie nicht direkt ansah. Sein gesamtes Auftreten vermittelte ihr nicht gerade einen sanften, herzlichen Eindruck. Es schien mehr, als wollte er selbst jeden unnötigen Kontakt vermeiden und schnellstmöglich anderen Dingen nachgehen, denen seine eigentliche Aufmerksamkeit galt.

Bestimmt war er  derjenige bei Hora, als ich aufgewacht bin, dachte sie und rief sich seine abfälligen Bemerkungen ins Gedächtnis zurück. Nein, er war wirklich kein Fan ihrer Gegenwart, was immer seine Beweggründe dafür sein mochten.

Er geleitete sie durch einige Gänge, die wie ein Labyrinth im Kloster verliefen, und führte sie hinaus in einen prächtigen Garten, der in voller Blüte stand. Wie verzaubert stand sie da und nahm den Anblick dieses Paradieses für einen Moment in sich auf. Sie fand sich umgeben von Blüten in Hülle und Fülle, kräftige Farbwirbel vor ihren Augen: herrlich abendliche Rot- und Blautöne entlang der Fassade des Klosters hinter ihr, strahlendes Grün, Sonnengelb und Pfirsich in etlichen Nuancen in den angelegten Hochbeeten, schimmerndes Violett, Indigo und Magenta begegneten ihr in großen Blumenwannen, die entlang des rotbraun gepflasterten Weges aufgestellt worden waren. Der blumige, frühlingshafte Duft war berauschend und ließ alle negativen Gefühle von ihr abfallen. Tatsächlich fühlte sie so etwas wie Entspannung. Eine Entspannung, die ihr Herz beruhigte.

"Komm zu mir, Chihiro", bat Hora, der an einem gläsernen Tisch in der Mitte des märchenhaft botanischen Gewölbes stand, das sie hier ernsthaft als Garten bezeichneten.

"Es ist wunderschön", gestand sie und setzte sich, als er ihr einen Platz anbot. "Dieser Geruch... was ist das alles?"

"Hier werden Pflanzen angebaut, die ausschließlich zu Heilzwecken verwendet werden. Es ist eine der wichtigsten und angesehensten Aufgaben unserer Abtei, Salben und Elixiere und andere Arzneien herzustellen. Schon ihr herrliches Aroma wirkt lindernd für so manchen Schmerz, wie du sicher schon bemerkt hast." Er beugte sich vor und schenkte aus einer Kanne einen hellen, bläulichen Tee ein. "Nach einer Tasse hiervon wirst du dich wieder ganz wie neu fühlen." Schon der erste Schluck ließ sie schnurren wie ein junges Kätzchen - es schmeckte unglaublich! Süß und aromatisch, dabei aber ganz zarte Geschmacksnoten, als lausche man einer auf der Harfe gespielten Melodie. Der Geschmack an sich war schon reines Entzücken, seine Wirkung aber belebend wie Adrenalin. Ihre Kopfschmerzen waren im nu verschwunden, ihre Erschöpfung wie ausgetrieben und ihr Körper dabei so erholt, als hätte sie allen Schlaf nachgeholt und die schmerzenden Muskeln auskuriert.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt